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Archiv-Artikel

Traurige Lachnummern

HUMORFORSCHUNG Auf der russischen Akademie für Komik (Teil 2)

Man dachte über den Witz nach, in dem alle steckten, das ganze Land, die Welt, das Sonnensystem

Was bisher geschah: In den Achtzigerjahren besuchte der Autor die Moskauer Kunsthochschule, um sich wissenschaftlich mit Humor zu beschäftigen. Dabei lernte er den Clown Kowalew kennen, der privat niemals lustig war.

Der Clown Kowalew war keine Ausnahme, auf seinem Gesicht hatte sich ein immergleicher Ausdruck festgefressen: eine Mischung aus höflichem Interesse und angeekelter Abneigung. Im Mai saß er stets in der Aufnahmekommission der Moskauer Zirkusschule, er wurde als unabhängiger Experte berufen, um beim Vorsprechen der jungen Menschen mit zu entscheiden, ob sie das Zeug dazu hätten, ein sowjetischer Clown zu werden. Er lud uns, mich und den Kollegen Gusman, den dritten in unserer Runde, ein, an der Arbeit der Aufnahmekommission als stille Zeugen teilzunehmen. Für mich wurde das zu einer unvergessliche Erfahrung.

Der Clown Kowalew saß wie eine Sphinx in den Prüfungen, obwohl manche Abiturienten sehr talentiert und gut drauf waren. Wenn die Vorsprechenden Langweiliges zeigten, schaute Kowalew angewidert zur Seite und sagte höflich: „Danke. Der Nächste bitte.“ Wenn aber der Vorsprechende es schaffte, ein Feuerwerk vom Witz und Freude zu entfalten, kaute Kowalew an der Unterlippe, machte ein kleines Kreuz auf dem Papierchen und sagte: „Lustig. Der Nächste bitte“.

Er sagte dieses „Lustig“ aber mit der immergleichen angewidert-traurigen Stimme, als ob der talentierte Abiturient ihm gerade auf die Stiefel gekotzt hätte. Gusman und ich, wir wiederum lachten uns bei diesen Aufnahmeprüfungen schlapp.

Unser zweite Kollege Gusman war eine Seele von Mensch. Von sich erzählte er, dass er ein freier Schriftsteller, genau genommen: ein Übersetzer sei und vier oder fünf Sprachen beherrschen würde: Usbekisch, Kasachisch, Turkmenisch und Tadschikisch, fast alle Sprachen der zentralasiatischen Völker. Die Sowjetunion war nicht nur eine Diktatur des Proletariats, sondern auch ein internationales Bündnis der Völker, in dem keine Minderheit schlechter behandelt werden durfte als die andere. Jede Minderheit sollte ihre Dichter und Denker haben, ihre Klassiker, die den Alltag der einfachen Bauern, Viehzüchter, Imker, Baumwollernter und so weiter verewigten. Die Werke der Klassiker der Volksminderheiten spielten eine wichtige ideologische Rolle in der Sowjetunion, sie wurden jedes Jahr zügig übersetzt und in die Buchhandlungen des weiten Landes gebracht. Zusammen mit den Werken von Lenin, Marx und den dicken Bänden, die aus den Federn der politischen Führung stammten, bildeten die Klassiker der Minderheiten den Kanon der großen sozialistischen Literatur. Während die Politbücher trockene Namen hatten, trugen die Werke der Minderheiten romantische Titel wie „Das Herz der Wüste“ oder „Die Herrscher der Steppe“ oder „Der weiße Vogel der Freiheit“.

Diese Werke übersetzte Gusman mit großer Sachlichkeit und Mühe ins Russische. Er fuhr zu den jeweiligen Klassikern hin, um vor Ort die Natur zu studieren und seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Oft kamen die Klassiker auch zu ihm nach Moskau, sie brachten Cognac und Wein mit, manche in Flaschen und manche sogar in Kanistern, je nachdem wie groß bereits der Ruhm des jeweiligen Klassikers war. Die Klassiker wohnten und kochten bei Gusman süße, fette, aber unglaublich schmackhafte Gerichte ihrer nationalen Küchen, sie sangen Volkslieder, erzählten Märchen und tauchten den ganzen gusmanischen Haushalt in exotische Gerüche und Farben ein. Die Nachbarn riefen bei der Miliz an, die Miliz wusste aber Bescheid und wurde überdies von Gusman geschmiert.

Nachdem wir uns kennengelernt hatten, lud Gusman uns uns jedes Mal ein, wenn es wieder darum ging, mit den Klassikern zu feiern. Diese Orgien haben immer auf Russisch stattgefunden, niemals habe ich gesehen, das Gusman sich mit seinen Mandanten in ihrer Sprache unterhielt. Ein Mädchen flüsterte mir einmal auf einer solchen Party zu, Gusman kenne gar keine Fremdsprachen, er schreibe alle Bücher einfach selbst, nach Absprache mit dem jeweiligen Klassiker, der ihm kurz und knapp eine Idee, einen Plot, eine Intrige aus der Wüste schildere. Den Rest mache Gusman selbst, und das Geld werde dann gerecht geteilt.

Ich habe tatsächlich nie ein Manuskript oder überhaupt irgendeinen Text in fremder Sprache auf seinem Schreibtisch gesehen. Ich glaube, Gusman war für die gesamte große sozialistische Literatur zuständig, auch für die Politschinken, und die ganzen Erinnerungsbücher von Parteibonzen hat er wahrscheinlich auch geschrieben. Später in den Neunzigerjahren lieferte er Übersetzungen für die Serie „Junge englische Kriminalromane“. Es waren Bücher von sehr jungen englischen Autoren, deren Namen selbst in England keiner kannte.

Unser aktiver Gedankenaustausch in den Achtzigerjahren bestand hauptsächlich daraus, dass wir uns fast ein Jahr lang an jedem Wochenende zusammensetzten, Alkohol tranken und Karten spielten. Dabei rauchten wir wie die Schlote und erzählten uns blöde Witze mit politischem Hintergrund. Gleichzeitig dachten wir über den Witz nach, in dem wir alle steckten, das ganze Land, die Welt, das Sonnensystem. Der Sinn des Witzes sei eigentlich klar, aber schwer zu beschreiben, philosophierte Clown Kowalew. Das ist wie beim Pferdetreten, meinte er. Man lacht wie blöd, kann aber im Nachhinein nicht erklären, was daran so komisch ist. WLADIMIR KAMINER