Die Blessuren der Anderen

MEDEA Clemens Schönborn inszeniert „Medea“ in Leipzig als Solo für Sophie Rois

Die Chef-Skalpjägerin schneidet sich ihren Teil aus dem Goldenen Vlies der griechischen Tragödie

VON CHRISTIAN RAKOW

Im Wonnemonat August hingen in ganz Norddeutschland Werbeplakate, die verkündeten: „Gojko Mitic ist Sorbas“. Der große Defa-Indianer-Darsteller Mitic war ins Mecklenburgische Schwerin gezogen, um sich mit einem Engagement bei einem Sommermusical seinen Wunsch nach „Lebensrollen“ zu erfüllen. Der Grieche Alexis Sorbas, der mutterwitzige, pralle Lebenskünstler sollte es sein, unter sternenklarem Himmel, auf einer Freilichtbühne am Schweriner Romantikschlösschen. Es kommt ja nicht so oft vor, dass sich Mecklenburg als Avantgarde begreifen darf.

Aber zumindest dieses Ding macht Schule. Schon auf den Zufahrtsstraßen nach Leipzig prangen die Plakate des Centraltheaters: „Sophie Rois ist Medea“. Die Chef-Skalpjägerin der Berliner Volksbühne hat sich in die Karl-May-Heimat Sachsen begeben, um sich ihren Teil aus dem Goldenen Vlies der griechischen Tragödie zu schneiden.

Geflochtener Haarkranz

Auf Medea hat sie es abgesehen, die grausige Kindsmörderin. Auch eine Lebensrolle. Ein Hauch von Sommertheater weht im verschneiten Januar. Leider verpasst das Leipziger Publikum seinen Einsatz und versagt der Rois beim ersten Auftritt den in solchen Fällen obligatorischen Szenenapplaus. Vielleicht ist sie zu schwer erkennbar unter ihrem kriegerisch geflochtenen blonden Haarkranz? Oder liegen die letzten Fernsehauftritte schon zu lang zurück? „Hey du, mit dir rechnet doch keiner mehr“, stichelt sie mit einem kurzen Schwert gegen den jungen Griechen Jason (David Kosel).

Der hängt schon eine Weile in einem Netz über dem Bühnenboden und fleht lauthals um Hilfe. Und Medea rettet ihn, mit funkelnden Augen, wie ein Kind, das ein neues Spielzeug gefunden hat. Wir befinden uns im Barbarenland, wo sich die Königstochter Medea in den Fremdling Jason verliebt, der gekommen ist, ihrer Familie das Goldene Vlies zu entreißen.

Treckerfahrerwitze

Erzählt wird ohne viel Federlesen, nach Art des Treckerfahrer-Witzes: Wo sind deine Eltern und Geschwister? – Vom Trecker überfahren! – Oh, und was machst du den ganzen Tag? – Trecker fahren! Rois rennt nach links: „Jason, hier für dich, mein Vater!“; Rois rennt nach rechts: „Hier, meine Mutter!“ Dazwischen schwappt das Kunstblut.

Unter juvenilen Liebesschwüren geht es nach Griechenland, wo sich Medea Ruhm erwartet („Berühmt am Arsch der Welt, da hab ich was davon, pah!“). Doch Jason verlässt sie zugunsten einer sicheren Stellung am Hof. Vor dem eisernen Vorhang, auf der weit ins Parkett gezogenen Rampe (Bühne: Thomas Schuster) streift Medea ruhelos, als suche sie des Nachts im Küchenschrank nach einer Aspirin. Das Leid einer mittelmäßigen Ehe hat sie eingeholt.

Im Schlepptau ihrer purpurnen Schärpe zieht sie einen schwarzen Chor, der beständig das biedere Mittelmaß preist. Christine Groß hat diesen Chor von Schauspielschülern glänzend eingestellt, so wie zuletzt den Nachwuchs an der Volksbühne für René Polleschs „Ein Chor irrt sich gewaltig“. Doch soll er lediglich den Hintergrund grundieren. Die großen Farbtupfer setzt Rois. Es ist der Irrtum dieser Inszenierung, dass sie nicht konsequent als Solo eingerichtet wurde. Clemens Schönborn, Lebensgefährte von Sophie Rois, hat sich offensichtlich wie jeder hier eine dienende Rolle zugedacht. Als Filmregisseur (so mit der sanften Bauarbeiterkomödie „Der Letzte macht das Licht aus“) hat er einen Blick für schrullige Charaktere. Auf der Bühne fehlen ihm gänzlich die Mittel der Ensembleführung. Hingestellt wie Pappkameraden werden Jason (mit entsaftetem Holzfällercharme: Wolfgang Maria Bauer), die Amme (hintersinnig stoisch: Ellen Hellwig) und Kreon (voll bewundernswertem Gleichmut: Andreas Keller), auf dass die zusehends zur Höchstform auflaufende Rois sie abräumen kann. Peng, peng, peng.

In B-Movie-Manier

Die Interpretation der lose nach Euripides gestrickten Fassung tut ihr Übriges: Jason ist in der erstbesten Anstellung genügsam geworden – wie „öde und enttäuschend“! In B-Movie-Manier zerlegt Medea die braven Verhältnisse. „Wo zur Hölle bin ich hier!“ Und geduldig benetzt Kreon dazu ihre Allüren: „Medea, du bist schön, du unterscheidest dich von uns, deshalb wollen wir dich nicht unter uns haben.“ Den Kampf gegen ein saturiertes bürgerliches Selbstverständnis führt die neue Leipziger Intendanz von Sebastian Hartmann tatsächlich beständig und tapfer. Aber hier wird der Kampf zum Sparring. Blessuren kriegen nur die Anderen.

Die Leipziger Schauspieler, die jüngst in Hartmanns Tschechow-Inszenierung von „Kirschgarten“ noch einmal bewiesen, dass sie zu den derzeit vitalsten und eindrucksvollsten Ensembles in Deutschland gehören, hat man noch nie so kraftlos gesehen. Nichts gegen Gastauftritte, aber wenn demnächst Sophie Rois wieder nach Leipzig gelotst wird, dann bitte in einer Regie, die allseitig fordert.