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Archiv-Artikel

Was uns das Land gegeben hat

Udo Di Fabio hält vor allem die preußischen Tugenden hoch. Der Verfassungsrichter legt Wert auf seine proletarische Herkunft

Er hat nicht abgewägt damals. Herr Di Fabio verließ sein verarmtes Landgut in Italien und zog der Arbeit nach. Zufall, dass sein Ziel Deutschland war, dass er als Stahlarbeiter im Ruhrgebiet anheuerte. Dass sein Enkel ein knappes Jahrhundert später über das politische Leben in diesem Deutschland mitentscheiden würde, hätte ihm aber gefallen. „Bergleute wollten immer, dass ihre Kinder es besser haben, einen höheren Bildungsabschluss machen,“ sagt Udo Di Fabio, der Enkel.

Mit 51 Jahren ist er jüngster Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe und weiß nicht viel von seinem Großvater, nur dass er die italienische Kultur in Deutschland nicht groß gepflegt hat – was der Enkel bedauert. „Ein bisschen mehr Italien hätte ich schon gerne mitgeschnuppert“, meint Di Fabio, während er den verkohlten Rand seiner Pizza abschneidet. Sein Abendbrot im einzigen Stück Italien in der Nähe des Verfassungsgerichts: das Restaurant „Italy Italy“.

Was er dem Großvater indirekt verdankt, ist seine Kindheit im Ruhrgebiet, in diesem deutschen „Meltingpott“, wie Di Fabio das nennt, in leichtem Pottdialekt, den er „auch nicht ganz abschleifen lassen will.“ Obwohl es ein „Unterschichtsdialekt ist“, wie er stolz anfügt. Durch Zuwanderung wurde das Ruhrgebiet in den 50er-Jahren das, was es bis Ende des 20. Jahrhunderts war: ein prosperierendes Industriegebiet. Wer Arbeit hatte, war schnell integriert, auch wenn es harte Arbeit war. Wer mehr wollte, hatte Aufstiegschancen. So ist Udo Di Fabio geprägt. Seine Karriere vom Bergfacharbeiterkind mit zweitem Bildungsweg zum Bundesverfassungsrichter und promovierten Luhmann-Schüler lässt sich so erklären.

So wie sich erklären lässt, dass er sich berufen fühlte, in seinem neuen Buch „Kultur der Freiheit“ die westlichen, vor allem die preußischen Tugenden hochzuhalten: Familie, Pflichtbewusstsein, Arbeitsethos. Damit hat er nicht nur den Nerv der Konservativen getroffen, die es als Anstoß zu einer Debatte über neue Bürgerlichkeit nahmen, sondern auch den der Altlinken, die ihn als willkommenes Schreckgespenst verteufelten. Sein Wertebewusstsein ist jedoch, neben politischer Motivation, auch das Ergebnis einer Integrationsarbeit. Einer Zuversicht, die diese Gesellschaft einmal anziehend gemacht hat.

Als das Anwerbeabkommen 1955 geschlossen wurde, war Udo Di Fabio eineinhalb Jahre alt. Bewerten kann er es heute nur aus der Distanz. „Es war ökonomisch sinnvoll und an und für sich eine gute Idee“, findet Di Fabio. „Leider aber ist sie typisch für sozialtechnische Ideen. Man hat vergessen, dass Menschen dort, wo sie leben und arbeiten, schnell heimisch werden, vor allem ihre Kinder.“ Als Vater von vier Kindern erlebt er dies heute selbst. Dass damals keiner bedacht hat, dass Gastarbeiter bleiben würden, ist für Di Fabio psychologisch erklärbar. „Deutschland hatte Erfahrung mit Zuwanderung, mit freiwilliger, aber eben auch eben mit erzwungener, in Form von Fremdarbeitern im Zweiten Weltkrieg.“ Kaum jemand glaubte, dass Gastarbeiter hier heimisch würden. SUSANNE LANG