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Archiv-Artikel

Autorin ohne Kuschelfaktor

Die Universität Oldenburg hat eine Poetik-Professur für Kinderliteratur erfunden. In diesem Wintersemester gibt die Autorin Mirjam Pressler Auskunft darüber, wie Lesen Kinder retten kann

Die Grenze zwischen Erfahrung und Literatur ist ihr GeheimnisSie ahnte nicht, dass ihre Kindheit Leitmotiv ihrer Bücher werden würde

Von Annedore Beelte

Sie wollte nie über dieses Heim schreiben. Das Heim gehört zu ihrer Kindheitsgeschichte, aber sie spricht nicht darüber. Nur weil sie dem Verlag eine „wahre Geschichte“ versprochen hatte, begann sie zu schreiben, sagt Mirjam Pressler. Über ein Mädchen aus einem Kinderheim, das zum Spendensammeln geschickt wird und zehn Mark aus der Spendenbüchse klaut.

Auch das Mädchen Mirjam ging sammeln und griff in die Spendenbüchse. Wo die Erfahrung aufhört und die Literatur anfängt? „Das erfährt niemand. Diese Grenze ist mein Schutzwall“, sagt Mirjam Pressler, eine der etabliertesten und produktivsten Kinderbuchautorinnen in deutscher Sprache. 2004 hat sie den Deutschen Bücherpreis für ihr Lebenswerk bekommen. Ihren Namen zu nennen, ruft entweder begeisterte Lese-Erinnerungen hervor – oder fragende Blicke.

„Ich habe sie schon darauf vorbereitet, dass es nicht voll wird“, sagte Jens Thiele, Leiter der Oldenburger Forschungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur, vor ihrer ersten Poetik-Vorlesung noch. Etwa achtzig Zuhörer wurden schließlich gezählt. „Bei Paul Maar im vergangenen Jahr war es brechend voll. Eigene Kindheitserinnerungen und ein Autogramm vom Sams-Erfinder waren für viele wichtiger als die Theorie“, vermutet Thiele.

Mirjam Pressler ist keine Autorin mit Kuschelfaktor. Als „problembezogen“ beschreibt Jens Thiele ihre Bücher. Er schätzt die reflektierte Autorin, die präzise in Worte fassen könne, was ihr Schreiben bedingt. Sicher, zur Zeit beherrschen andere Bücher den Markt. Aber man müsse von der Oberfläche der Szene, die derzeit von Romanen à la Harry Potter und Tintenherz geprägt ist, differenzieren. Zum Vergleich zieht Thiele lieber experimentelle Kinderliteratur wie „Weißnich“ von Joke van Leeuwen heran. Und da schneidet Presslers traditionelles Erzählen gut ab. „Ich glaube, dass Kinder eine runde Geschichte mit Anfang und Ende brauchen, die auch emotional ergreift.“

„Ich bin ein Kind geblieben“, sagt Mirjam Pressler von sich. Die 65 Jahre merkt man höchstens den Spuren in ihrem Gesicht an, wenn man näher kommt. Vorne im Hörsaal steht eine zierliche, kindhafte Frau mit tiefschwarz gefärbtem Wuschelkopf. Wenn sie amüsiert ist, knipst sie ein Lächeln an, legt den Kopf schräg und zappelt ein bisschen hinter dem Pult herum.

Mit fast vierzig Jahren hat Mirjam Pressler zu schreiben begonnen: Die allein erziehende Mutter von drei Töchtern brauchte Geld – und glaubte, es ließe sich mit dem Schreiben unkompliziert verdienen. Märchenhafterweise behielt sie Recht: Ihr Debütroman „Bitterschokolade“ wurde prompt 1980 mit dem Oldenburger Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Die Einsamkeit einer jungen Frau wird schon hier in scharf gezeichneten Miniaturen geschildert. Beim Nachschmecken von Schokolade und Heringssalat entwirft Pressler Biss für Biss ein Stimmungsbild der übergewichtigen Eva.

Doch dass Schreiben „sie selbst angeht“, dass ihre traumatische Kindheit das Leitmotiv ihrer Bücher werden würde, wusste sie damals noch nicht. Ihren Roman „Novemberkatzen“ siedelte sie im Milieu der Pflegefamilie an, in der sie lebte, bis man Pressler wegen „Verwahrlosung“ ins Heim steckte. Hier war Lesen eine misstrauisch beäugte Fähigkeit und das Pflegekind die Zielscheibe für Frust. Mirjam Pressler schrieb und schrieb und unversehens ließ sich die Hauptfigur Ilse kaum noch von der Autorin trennen. „Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen“, die Geschichte von Halinka und der Sammelbüchse, wurde ein weiteres solches „Einschnittsbuch“.

„Wenn ich meine Geschichte wiederhole, wächst die Distanz“, sagt Mirjam Pressler. Da ist er wieder: Der Schutzwall, hinter dem sie sich genau dann sicher weiß, wenn sie die wunden Punkte offen legt.

Die Geschichten übers Klauen, übers heimliche Lesen, über die Prügel von der Pflegeschwester erzählt sie knapp und präzise im großen Hörsaal der Universität. Was Kindsein ausmacht und wie Literatur Kinder verändern kann, ist heimliches Thema ihrer Vorlesung. „Kinder wie ich kamen in den 50er Jahren nicht in Büchern vor“, stellt sie fest. „In den letzten Jahrzehnten haben sich Kinderbücher von der Pädagogik zur Literatur entwickelt – auch durch meine Bücher“, sagt Pressler.

Kritiken? Prallen an ihr ab. Der Schutzwall schließt sich wieder. Einflüsse anderer Autoren? Am Anfang, in den achtziger Jahren vielleicht. Aber an Namen erinnert sie sich nicht mehr. „Warum und wie schreibe ich Bücher für Kinder und Jugendliche?“, ist Presslers erste Vorlesung überschrieben. „Das ,Wie‘ ergibt sich hoffentlich von selbst“, fügt sie schnell hinzu. Ohne Konzept schreibe sie drauflos, die Figuren wandeln sich, die Geschichte geht nie geahnte Wege. Im Nachhinein dafür Worte zu finden, scheint schwierig. Nichts zusammenfassen, sondern den Leser selbst die Details riechen, fühlen schmecken lassen. Eindrucksvolle Symbole finden, die über einzelne Wahrnehmungen hinausweisen. Das muss jeder Autor. Wie daraus eine Literatur entsteht, die „dazu beiträgt, dass Leser ohne Täuschung zu leben vermögen“, wie es der Kritiker Christoph Launer formuliert, wird wohl Mirjam Presslers Geheimnis bleiben.

Ihr Arbeitspensum ist enorm: Mehr als 30 Romane für Kinder, Jugendliche und neuerdings auch Erwachsene, dazu fast 300 Übersetzungen. „Ich kann mir das Übersetzen nur leisten, weil ich Bücher schreibe“, sagt sie. Dabei treibt sie ein geradezu missionarischer Eifer an, Literatur und Leser zusammenzuführen.

Jahre ihres Schaffens hat sie der Auseinandersetzung mit Anne Franks Tagebüchern gewidmet. Erst war das Übersetzen eine „Ehre“, die sie nicht ausschlagen konnte. Doch dann wollte sie sich mit dem Ende der Aufzeichnungen nicht zufrieden geben, verfolgte Annes Weg weiter nach Bergen-Belsen. Die Wut war stärker als das Grauen. Wut über das Schweigen, über die Jahre, die in vielen Biografien einfach nicht stattfanden, genauso wie über das Reden, über die „Schwarz-Weiß-Malerei der 68-er“. Und sie selbst – wie konnte die Tochter einer jüdischen Mutter Anfang der 40er Jahre mit dem Namen Mirjam überleben? Da ist eine Leerstelle. Sie erinnert sich nur an das Herumgestoßen-sein, an die Einsamkeit und die Scham. Vielleicht funktioniert auch hier der Schutzwall.

Mirjam Pressler ist lange genug Notwendigkeiten gefolgt: Da ist die Odyssee ihrer Kindheit, die abenteuerlichen Anstrengungen, ihre Familie mit Taxi-fahren und Jeans-verkaufen über Wasser zu halten, die mies bezahlten Jobs in der Buchbranche, die sich am Anfang der Autorenkarriere bieten. Heute bestimmt sie selbst – und entscheidet sich freiwillig für eine pausenlose Folge von Buchprojekten, einen überquellenden Terminkalender. Zwischen zwei Auftritten in Oldenburg und Kassel fährt sie zum Schlafen nach Hause, das braucht sie. Ihre Besucher werden nicht müde, die Idylle des alten Hauses in der Holledau bei München zu schildern, in der sie die Schriftstellerin, ihren Mann und diverse Tiere und Enkelkinder getroffen haben. Mirjam Pressler zückt in dem Oldenburger Café ganz unvermittelt ihr Handy. „Schauen Sie mal.“ Auf dem Display: eine üppige Kartäuserkatze. „Eigentlich heißt sie Amelie, aber wir nennen sie Mausi.“ Das alles klingt nach einem gefundenen Glück. Mirjam Pressler widerspricht da nicht.

Weitere Vorlesungen am 12. und 26.1., jeweils 18 Uhr, Hörsaal 1