: Mindestens für drei Tage verreist
LESEGLÜCK Die Rettung der Buchpersonen ist das große Projekt des deutsch-georgischen Autors Giwi Margwelaschwili. Seine literarischen Zeitreisen verwandeln den Leser in einen Expeditionsteilnehmer
VON INSA WILKE
Kein anderer Autor der deutschsprachigen Literatur bemüht sich so unermüdlich um seine Leser wie Giwi Margwelaschwili. Dabei hat er nur eines im Sinn: die Rettung der Buchpersonen, wie er literarische Figuren nennt, und die Erforschung der Buchweltbezirke, also der Welten, die in Büchern entworfen werden. Denn so, wie sein eigenes Leben von einem fremden Text bestimmt war, so sind auch die Figuren der Literatur, die Buchpersonen, in ihren Büchern gefangen.
Geboren wurde Margwelaschwili 1927 in Berlin. Seine Eltern waren vor der Roten Armee aus Georgien geflohen. Die Mutter starb im Exil. Vater und Sohn wurden 1946 vom russischen Geheimdienst entführt und getrennt. Den Vater sah Margwelaschwili niemals wieder. Er selbst wurde nach Gefangenschaft und Lageraufenthalt – noch auf deutschem Boden – als Neunzehnjähriger nach Georgien verschleppt. Obwohl er als junger Mann kein Georgisch und Russisch sprach und in der Heimat der Eltern als Fremder, sogar als Spitzel wahrgenommen wurde, studierte er Philosophie und gehörte bald zu den wichtigen kritischen Intellektuellen in Tbilissi, der heutigen Hauptstadt Georgiens.
In seiner Muttersprache, auf Deutsch, schrieb er in den 40 Jahren bis zum Ende des Kalten Krieges ein literarisch-philosophisches Lebenswerk, das seinesgleichen sucht. Seinen eigenen Lebenstext konnte Margwelaschwili nicht ändern. Aber wenigstens das Schicksal der Buchpersonen lässt sich verbessern. Das klingt allerdings einfacher, als es ist, denn auch die Buchwelt hat ihre Regeln und man muss die Lücken dazwischen finden. Nach solchen Lücken hat Margwelaschwili auch in Saarbrücken gesucht, als er 1990 Stadtschreiber dort war. Entstanden ist der Roman „Das Lese-Liebeseheglück“: Mit Persönlichkeiten des kulturellen Lebens der Stadt startet Margwelaschwili vom Frühstücksraum des Hotels Fuchs aus eine Expedition in die Geschichtsbuchwelt des Jahres 1786, um das Eheglück des Fürsten Ludwig von Nassau-Saarbrücken mit Katharina Kest zu verlängern.
Dafür gilt es, die Zeit anzuhalten und die Französische Revolution hinauszuzögern: „Es ist soweit. Lieber Leser, jetzt kommt alles auf Sie an. […] Sehen Sie den Wandbehang an der Hinterwand dieses Frühstücksraums? Der Wandteppich ist ziemlich groß und zeigt eine Jagdszene […]. Meine Damen und Herren, haben Sie zu Hause Bescheid gesagt, dass Sie mindestens drei Tage weg sein werden? Ja? Dann ist alles in Ordnung. Nun, lieber Leser, was zögern Sie noch?“
Eine Zeitreise! Wer hat nicht schon davon geträumt? Der Gobelin ist das Eintrittstor ins 18. Jahrhundert. Den Sprung hinein ermöglicht der Leser: Seine Phantasie lässt die Geschichtsbuchwelt lebendig werden. Man hat es bei diesem Buch nicht nur mit einer phantastischen Abenteuergeschichte und einem historischen Roman über die Traumatisierung der Saar-Region zu tun, wie Ralph Schock in seinem hilfreichen Nachwort erklärt. Margwelaschwili führt auch ein klassisches philosophisches Gespräch. Äußerst unterhaltsam ist das allein durch seine Liebe zum Sprachspiel. Mit Witz lernt man Grundsätzliches über Literatur. Und über das gute Leben im schlechten, denn darum geht es immer bei ihm.
Margwelaschwili verwandelt den Leser in einen der besten Sorte: in den aktiven, in der Buchwelt anwesenden Leser. Den braucht es wiederum dringend in seiner „Fluchtästhetischen Novelle“, die soeben beim Verbrecher Verlag erschienen ist. Hier geht es um die vertrackte Tatsache, dass Buchpersonen gelesen werden müssen, sonst sterben sie an der „Leserschwindsucht“.
Ein solchen Tod droht dem jungen Wakusch, Margwelaschwilis Alter ego, der Hauptfigur seines autobiografischen Riesenwerks „Kapitän Wakusch“: „So musste unsere junge nachkriegsgefangene Buchperson Wakusch bald feststellen, dass ihr Geheimnis im deutschen Sprachraum kaum einen Leser interessierte. Was mit ihr in der Sowjetunion geschehen würde, war den meisten Realpersonen, die am Anfang ihrer Lese-Lebensgeschichte noch fleißige Leser waren, dann schon egal geworden. Einer nach dem anderen hatte sich langsam aus ihrem Buch verkrümelt.“
Mit dem „Lese-Liebeseheglück“ hat Margwelaschwili sich das Gespräch über seine Buchweltbezirke geschenkt, das in der Realwelt nur selten jemand mit ihm führen möchte. In der „Fluchtästhetischen Novelle“ nimmt er ebenfalls selbst das Ruder in die Hand, um seinem Wakusch das Überleben zu sichern. Wakusch sitzt im Jahr 1947 auf dem Flughafen in Berlin-Schönefeld und soll nach Georgien verfrachtet werden. Das war das Ende vom zweiten Band der Autobiografie. Jetzt aber startet die Maschine nicht, denn die Leser-Energie fehlt. Erfreulich ist: Wakusch wird nicht verschleppt. Unerfreulich hingegen: Er wird vor lauter Lesermangel schon ganz löchrig.
Wakusch rätselt über die Gründe seines Nichtgelesenwerdens und des daraus resultierenden Nichtgewolltwerdens des dritten Teils seiner Autobiografie. Sein potenzieller Leser, dem er auf dem Pissoir begegnet, fragt: „Was meinen Sie, sind die unveröffentlichten Partien Ihrer Lese-Lebensgeschichte so, dass sie einen Verlag abschrecken könnten, sie zu drucken? Sind sie zum Lesen vielleicht zu abstrakt, zu spielerisch, zu surrealistisch-phantastisch? Solche Literatur steht bei uns in Deutschland zur Zeit nicht besonders hoch im Kurs.“ Wakusch versteht die Ignoranz nicht: Erzählt sein Leben nicht auch vom Homo fugiens und dem allgemeinen Phänomen der Migration, vom Leben in der Warteschlaufe, das doch heute in Deutschland interessieren muss? „Auf-der-Fluchtsein“, die übliche Form der Migration, sei ja eine Lebenshaltung, die sich auf die Nachkommen übertrage. Seine Sprache mit ihren Neologismen und Einsprengseln aus dem Georgischen sei doch leicht zu erklären, nämlich als „sprachlich geformtes Fliehen“.
Wakusch beginnt, sich selbst, ohne Leser weiterzudenken. Dadurch erfährt man schon in diesem literarischen, poetologischen Lehr- und Zwischenstück etwas von seinen subversiven Versuchen, die Sowjets am Schwarzen Meer durch „Zaubersound“ und „Seelengrundveränderungstöne“ zu Verstand zu bringen. Man möchte Wakusch und seinem Autor von heute und hier aus der Realwelt zurufen, er solle sich keine Sorgen machen: Die Leser werden nicht ausbleiben. Die alten nicht und nicht die neuen.
■ Giwi Margwelaschwili: „Das Lese-Liebeseheglück“. Gollenstein, Merzig, 447 Seiten, 24,90 Euro
■ Giwi Margwelaschwili: „Fluchtästhetische Novelle“. Verbrecher Verlag, Berlin, 140 Seiten, 18 Euro