„Ich war die Größte“

In der DDR wurden nicht nur Leichtathleten oder Schwimmer gedopt, wie der Fall der ehemaligen Volleyballspielerin Katharina Bullin zeigt. Sie legt Zeugnis ab von einem manipulierten Leben

VON JUTTA HEESS

Wenn Katharina Bullin erklärt, welche Lage im Bett für sie halbwegs schmerzfrei ist, dann erinnert das an eine komplizierte Bedienungsanleitung: Die Knie liegen angewinkelt übereinander, dazwischen stopft sie die Bettdecke, rücklings schiebt sie ihre Faust unter die Hüfte, damit diese entlastet wird. In dieser Haltung gelingt es ihr einzuschlafen – es sei denn, die mehrfach operierte Hand und die Schulterprothese peinigen sie.

Der chronische Schmerz am ganzen Körper ist das Fühlbarste, was der ehemaligen DDR-Volleyballspielerin von ihrer sportlichen Karriere geblieben ist. Ruhm und Ehre wird der Silbermedaillengewinnerin der Sommerspiele 1980 in Moskau heute nicht mehr zuteil. Im Gegenteil: Sie wird von der Damentoilette vertrieben, weil sie so männlich aussieht. Und sie kämpft als Invalidin gegen ihre Arbeitslosigkeit. Bullin ist ein Dopingopfer, ihr Körper und ihr Leben wurden beschädigt von einem System, das Athleten mit gefährlichen Substanzen zur Leistungssteigerung voll pumpte.

Mutige Exponentin

In einer bisher noch nicht da gewesenen Ausführlichkeit erzählt Bullin in einem Dokumentarfilm von ihrem Schicksal. „Katharina Bullin – Ich dachte ich wär die Größte“ ist ein nachdrücklicher Beleg für die Menschenverachtung, mit der in der DDR Sportler zu Maschinen getrimmt wurden. Auch geschieht es zum ersten Mal, dass sich eine Athletin einer Mannschaftssportart derart exponiert – bisherige bekennende Dopingopfer kannte man eher aus Einzelsportarten wie Leichtathletik und Schwimmen. Der Filmemacher Marcus Welsch hatte Bullin per Zufall kennen gelernt und sie drei Jahre lang mit der Kamera begleitet. Das Ergebnis sind 79 sehr intensive Minuten, in denen die 46-Jährige von ihren Erfahrungen im Sport und dem schwierigen Weg der Aufarbeitung berichtet.

Anfangs ahnte die Volleyballerin nichts – wie die meisten jungen Kadersportler. Nach acht Stunden knüppelhartem Training sei man froh gewesen, wenn man etwas trinken durfte. Oder auch mal eine Spritze zur Leistungssteigerung bekam. „Ich habe an meinen Trainer und an meine Ärzte geglaubt.“ Dass in Medikamenten anabole Steroide enthalten waren, die vor allem das weibliche Hormonsystem zerstören, wussten die jungen Athleten nicht. Erst als ihre Regelblutung ausgeblieben sei, habe ihr das zu denken gegeben. Aber deshalb mit dem Sport aufzuhören, ist nicht in Frage gekommen: „O Gott, dann wirst du in Unehren entlassen“, so die Befürchtung.

Genauso wie von ihrer jugendlichen Unbefangenheit und Naivität erzählt Bullin geradeheraus von ihren körperlichen Veränderungen: Barthaare wachsen, Hände und Nase werden größer, Schultern und Oberschenkel breit wie bei einem Mann, die Stimme wird tiefer. Bullin öffnet sich völlig und zeigt keine Scham, über ihre Schädigungen zu reden. Bullin wurde unzählige Male operiert, ihre Knochen haben der übermäßigen sportlichen Belastung nicht standgehalten. Und gepfuscht haben Ärzte auch noch an ihrem Leib: Mit einer Mittelfußfraktur und einem Spezialschuh hat sie das volle Trainingsprogramm absolviert und bei der Europameisterschaft gespielt.

Eigentlich hätte man eine Platte in den Fuß einsetzen und ihn schonen müssen, damit der Bruch verheilt. Damals zählte aber nicht die Gesundheit, sondern die Leistung. Was danach folgte, berichtet Bullin ohne Selbstmitleid – obwohl man es ihr ohne weiteres zugestehen würde: Nachdem sie mit Anfang 20 eine Schulterprothese erhielt, wurde sie aus dem Leistungssport entlassen. Man gab ihr nicht die Möglichkeit abzutrainieren. Danach stürzte sie in eine Krise: Alkohol und Arbeitslosigkeit. „Ich musste mich entscheiden zwischen Gosse und etwas tun.“ Nach dem gelungenen Entzug arbeitete sie in Berlin mit geistig und körperlich Behinderten – eine Arbeit, die sie heute wegen ihrer Beschwerden nicht mehr leisten kann. Nun ist sie auf der Suche nach einer Weiterbildungsmaßnahme, damit sie wieder einen Job findet.

Zögern der TV-Anstalten

Marcus Welsch ist in zweifacher Hinsicht ein bemerkenswerter Film gelungen: Dem Zuschauer wird klar, dass Doping schwere Konsequenzen nach sich zieht, die man in dieser Deutlichkeit nur selten kennen gelernt hat. Doping hat bei Katharina Bullin das ganze Leben ruiniert – Gesundheit, Weiblichkeit, Beruf. Alles futsch. Auch noch Jahrzehnte nach der sportlichen Karriere. Doch nicht nur inhaltlich beeindruckt der Film. Welsch hält sich als Filmemacher völlig zurück und bringt uns dadurch die Protagonistin ganz nah, man gewinnt im Laufe der Dokumentation den Eindruck, sie zu kennen. Die Exsportlerin, die nicht vom Sport lassen kann – trotz der Hindernisse. Die auch heute noch im Fitnessstudio Gewichte stemmt, damit Muskeln ihre kranken Knochen entlasten. Die sehr männliche Frau, die ihre Haare kurz schneidet und ihre kräftigen Oberarme gern in ärmellosen T-Shirts zeigt. Die ausgelassene Kranke, die mit Schalk vorträgt, wie sie mit einem Gipsbein Auto gefahren ist.

Bestürzend ist zudem Bullins Machtlosigkeit bei der Erkundung ihres Schicksals, ein Fakt, den sie mit anderen Doping-Geschädigten teilt: Erst während der Entstehung des Films erklärt ihr ein Experte, der Sporthistoriker Giselher Spitzer, dass in ihren medizinischen Akten schon zu DDR-Zeiten genaue Doping-Dosierungen und sogar bereits vorhandene Schädigungen eingetragen wurden.

Der Film lebt nicht nur von Bullins Geschichte, sondern auch von ihrer Person, davon, wie sie diese Geschichte erzählt. Es ist wichtig, dass dieser Film im Fernsehen gezeigt wird, damit yendlich die Widerstände von Seiten der Sportverbände und der Pharmaindustrie gegenüber Entschädigungszahlungen für Betroffene aufweichen. Doch auch die Fernsehsender reagieren nach wie vor mit Widerwillen, sie wollen die erbarmungslose Wahrheit offenbar nicht zeigen: Welsch fand keine Unterstützung bei den Öffentlich-Rechtlichen für sein Filmprojekt und finanzierte alles aus eigener Tasche. Mittlerweile hat einzig Arte versichert, den Film im kommenden Jahr auszustrahlen.

Es ist notwendig, dass Fernsehanstalten nicht weiter wegschauen und mehr Mut zeigen, das schwierige Thema Doping anzupacken. Und dass dann vor allem diejenigen Leute zuschauen, die nach wie vor das systematische Doping in der DDR nicht wahrhaben wollen.