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Archiv-Artikel

Die Mehrheit hält Wachstum noch für entscheidend

Labor oder Quasselbude

■ Zwei Jahre lang hat sie gearbeitet, die Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Bundestages. 17 Abgeordnete quer durch alle Parteien und 17 Wissenschaftler haben in fünf Projektgruppen überlegt, was eigentlich das gute Leben ist. Am nächsten Montag werden sie auf ihrer letzten Sitzung einen Abschlussbericht vorstellen, der mit seinen Sondervoten und Minderheitspositionen die Breite der Debatte abbildet.

■ Die Projektgruppe 1 befasste sich mit dem Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft. Sie führte einen Grabenkrieg, in dem die verschiedenen Positionen sichtbar wurden, sich aber nicht annäherten.

■ Die Projektgruppe 2 beschäftigte sich mit der Entwicklung eines ganzheitlichen Wohlstands- und Fortschrittsindikators. Sie erzielte mit ihren Messgrößen, die über das bloße Bruttoinlandsprodukt hinausweisen, die konkretesten Ergebnisse.

■ Die Politiker und Experten in der Projektgruppe 3 befassten sich mit Wachstum, Ressourcenverbrauch und technischem Fortschritt. Sie haben manche Erkenntnisse, die zuvor in Fachdiskursen feststeckten, in die Öffentlichkeit getragen, zum Beispiel den Rebound-Effekt. Der sogenannte Rückschlageffekt besagt, dass effiziente Produkte oder ein optimierter Energieverbrauch nicht zwingend zu einem geringeren Ressourcenverbrauch führen.

■ Die Projektgruppe 4 diskutierte eine nachhaltig gestaltende Ordnungspolitik, und die Projektgruppe 5 beschäftigte sich mit den Themen Arbeitswelt, Konsumverhalten und Lebensstile. Gerade diese Gruppe, die für einen nachhaltigen Umbau der Gesellschaft wichtige Themen besprochen hat, hatte nur wenige Monate Zeit für ihren Bericht. Die Teilnehmer sehen bei diesen Themen Stoff für eine weitere Enquete.

INTERVIEW VON HEIKE HOLDINGHAUSEN UND BEATE WILLMS

taz: Frau Kolbe, 2011 haben Sie in der taz zur Arbeit der Enquetekommission gesagt: „Wenn nach zwei Jahren nur ein dicker Bericht rauskommt, der in den Schubladen landet, wäre das traurig“. Jetzt liegen 850 Seiten Text vor, und alle sind so klug als wie zuvor. Deprimiert?

Daniela Kolbe: Nein, ich bin ganz fröhlich und habe viel gelernt. Im Schrank werden die 850 Seiten nicht landen. Wir haben ein Modell einer alternativen Wohlstandsmessung entwickelt, statt der einzigen Messgröße Bruttoinlandsprodukt schlagen wir zehn Indikatoren vor, die ein vollständigeres Bild von Wohlstand in Deutschland liefern. Und wir haben einen Konsens erreicht, der heißt: Die Grenzen unseres Planeten bestimmen die Grenzen unseres Handels. Da hat die Kommission gut gearbeitet.

Ulrich Brand: In meinen Augen ist die Enquetekommission gescheitert. Manche sagen auch, sie war überfordert. Sie hat sich nicht kritisch mit den Treibern des Wachstums beschäftigt, etwa der Konkurrenz auf den Weltmärkten, mit den Dynamiken kapitalistischer Akkumulation oder anderen Motivationen für immer mehr Produktion und Konsum. Wir haben uns vor so vielen Fragen gedrückt. Dass wir unseren Planeten zerstören, das wissen wir längst. Es hat nur keine Konsequenzen. Vielleicht ist das in einer Gesellschaft, die nur drei Krisenstrategien kennt: Wachstum, Wachstum und Wachstum, auch nicht mehr möglich.

Kolbe: Gescheitert wäre die Enquete, wenn es ihr Auftrag gewesen wäre, für alle dringenden Probleme adäquate Lösungsstrategien zu finden und diese im Konsens zu verabschieden. Den Auftrag so zu verstehen wäre aber doch unrealistisch und naiv. Es ist doch ein großer Erfolg, dass wir diese wichtige Debatte endlich auch im parlamentarischen Raum geführt haben, und dafür sind wir ein beachtliches Stück vorwärtsgekommen. Aber hinter jeder Ecke lauern existenzielle Fragen. Ein Beispiel: Wir alle wissen, dass das mit dem vielen Fliegen nicht weitergehen kann. Trotzdem freuen wir uns, dass Airbus auch in Deutschland baut und Großaufträge bekommt.

Brand: F und F versaut die Ökobilanz, Fleisch und Fliegen, auch das wissen wir. Trotzdem glauben viele, es gebe ein Menschenrecht auf Schnitzel. Wir haben nicht angemessen diskutiert, wie wir mit den tief sitzenden Konsumwünschen der Beschäftigten umgehen wollen und wie diese Wünsche von den Produzenten erzeugt werden.

Die Zivilgesellschaft diskutiert das seit Jahrzehnten …

Brand: Wir haben diese Erfahrungen in der Enquete systematisch negiert, sowohl die der Zivilgesellschaft als auch die in anderen Ländern. Zum Beispiel haben wir nur ein einziges Mal einen Vertreter einer entwicklungspolitischen Organisation eingeladen. Und es war für mich als Politikwissenschaftler eine spannende Erfahrung, dass der Bundestag immer noch denkt, er sei das Zentrum der politischen Gestaltung. Die Governance-Diskussion in der Enquete war extrem schwierig, also festzustellen, welche Rolle die Zivilgesellschaft spielt!

Kolbe: Die Wachstumsdebatte läuft schon lange, aber mit welchen Auswirkungen auf die Lebensrealität der Menschen? Die Mehrheit hierzulande hält Wachstum immer noch für entscheidend. Diese Fragen in die SPD zu transportieren ist manchmal schwierig, ob sie in der Union diskutiert wurden, weiß ich nicht, bei den Linken war es eine Herausforderung.

Haben die schweren Krisen seit 2007 die Debatten befeuert?

Brand: Da stehen knallharte Interessen dagegen. Unternehmen und Kapitalbesitzer, Gewerkschaften und Politik leben davon, Wachstum zu erzeugen. Die Abkehr von einer Mobilitätspolitik im Autoland Deutschland etwa birgt wahnsinnige Konflikte, auch mit den Belegschaften und den Gewerkschaften. Wie können wir eine Konversion der Automobilindustrie organisieren, und zwar nicht auf dem Rücken der Beschäftigten, sondern mit ihnen? Da geht’s aber los.

Daniela Kolbe

geboren 1980 in Schleiz (Thüringen), sitzt für die SPD im Bundestag. Sie ist Physikerin, Mitglied des Innenausschusses und Vorsitzende der Enquetekommission. In der Projektgruppe 2 hat sie an einem neuen Wohlstandsindikator mitgearbeitet.

Hätten Sie dazu nicht viel konkreter fragen müssen, etwa: Wie organisieren wir die Sozialversicherung ohne Wachstum?

Kolbe: Diese Fragen haben wir ja diskutiert. Aber wir sind zu völlig unterschiedlichen Antworten gekommen. Die Regierungsparteien haben die Frage nach der Zukunft der Arbeit mit einer Ausweitung der Lebensarbeitszeit beantwortet, da stand die Rente mit 69 als Idee drin. Im Bericht der Opposition stehen andere Antworten, etwa die Notwendigkeit von tarifgebundenen Arbeitsplätzen oder die Aufwertung der Care-Ökonomie, also der Nichterwerbsarbeit.

BRAND: Das bleibt doch alles im Rahmen des Üblichen. Zum Beispiel taucht in dem Bericht die Chemieindustrie als erfolgreiches Modell ökologischer Modernisierung auf. Aber was heißt es denn wirklich, angesichts der Probleme, die Chemieindustrie grundlegend umzubauen? An den Kern der Frage sind wir nicht herangekommen: Muss vielleicht die deutsche Chemieindustrie ihre Produktion halbieren? Wir stellen in dem Bericht nur fest: Die deutschen Unternehmen produzierten sauberer als die in den anderen Ländern. Richtiger wäre, dass auch in den anderen Ländern sauber produziert werden müsste. So befördern wir nur die Exportmaschinerie in Deutschland. Wir müssen doch mal ehrlich sagen, dass wir in diesem Land verdammt viel Arbeitskraft aus der Chemie- und auch der Automobilindustrie nehmen müssen.

Kolbe: Einspruch! Als Sozialdemokratin will ich zwar keine internationale Konkurrenz um niedrigste Löhne und schlimmste Arbeitsbedingungen. Aber ich will einen Wettbewerb unter den Unternehmen darum, wer die sinnvollste und gesellschaftlich beste Lösung für Probleme anbietet. Das stört mich an der Postwachstumsdebatte, dass sie tut, als sei es egal, ob hinterher die Arbeitsplätze weg sind.

In Organisationen wie OECD und UN oder in Frankreich, China oder Lateinamerika wird ähnlich diskutiert. Hat die Enquete das wahrgenommen?

Brand: Der globale Süden ist nur als Abziehbild vorgekommen. China, Indien, die wollen nur wachsen, hieß es. Dabei ist das gar nicht unbedingt so. Und die Debatte über das „gute Leben“ etwa in Lateinamerika haben wir ignoriert, wir sind hausbacken in Deutschland geblieben. Es gibt keine Bereitschaft, unsere imperiale Lebensweise zu thematisieren und in der Konsequenz aufzugeben. Wir greifen auf billige Arbeitskräfte und Ressourcen von anderswo zurück, nur nicht auf die Erfahrungen von anderswo. In solch einer Situation ist es schwierig, konkrete Umbauprojekte, etwa eine solidarische Mobilität, hin zu einem starken und bezahlbaren öffentlichen Verkehr und weg von der Automobilität, zu formulieren.

Kolbe: Die Hälfte der Kommission bestand aus Mitgliedern mit einem stark nationalen Fokus. Außerdem lag es auch am Einsetzungsbeschluss, der unter dem Eindruck von multiplen Krisen auch in Deutschland geschrieben worden ist. Aber es stimmt, die internationale Perspektive fehlt in vielen Fällen, die Diskurse müssen wir weiterführen und mehr einfordern.

Brand: Eine der interessanten Diskussionen über einen alternativen Wohlstandsbegriff, die feministische Debatte, hat überhaupt keine Rolle gespielt.

Kolbe: Am Anfang war unter den 17 externen Fachleuten der Kommission keine Frau. Das war für mich ein Schock, da saßen ausschließlich Männer, noch dazu mit einem relativ homogenen Erfahrungshintergrund. Das haben wir erst später ein klein wenig geändert. Sicher sind deswegen die Fragen der Geschlechtergerechtigkeit nicht stark genug aufgenommen worden.

Ulrich Brand

geboren 1967 auf der Bodenseeinsel Mainau, ist Professor für Internationale Politik an der Uni Wien. Er ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac und war als Experte in der Projektgruppe 3 der Enquete zu Wachstum, Ressourcenverbrauch und technischem Fortschritt.

Zeitgleich mit der Enquete lief die Eurokrise, die Energiewende oder die Debatte über das neue Abfallgesetz – alles Ihre Themen. Berührungspunkte gab es nicht. Haben Sie im Elfenbeinturm diskutiert?

Brand: Es war Konsens in der Enquete, sich aus der Tagespolitik rauszuhalten. Das war ein Problem. Zum Glück haben wir am Ende wenigstens einmal zur Finanzkrise Stellung bezogen.

Kolbe: Es gab so viele tagespolitische Debatten, die die Enquete gelähmt hätten, wenn wir uns reingewagt hätten. Wir wären gar nicht mehr zur Arbeit an den langfristig gültigen Grundlagen gekommen. Wir haben unsere Ergebnisse in die Fraktion getragen, etwa die Bezahlbarkeit der Energiekosten der privaten Haushalte. Da treffen sich ökologische und soziale Fragen.

Matthias Zimmer von der CDU schlägt vor, die Kommission in der nächsten Wahlperiode weiterzuführen. Sind Sie dabei?

Brand: Dann müsste das Thema lauten: Was sind heute die Grundlagen von nachhaltiger Politik? Wie soll Politik agieren, was sind die Instrumente in Zeiten von Globalisierung und Europäisierung?

Kolbe: Eine weitere Enquete wäre sicher sinnvoll, allerdings mit einem genaueren Einsetzungsbeschluss. Der Auftrag dürfte nicht wieder lauten: Rettet mal kurz die Welt, sondern er müsste präzise Felder benennen.