: Frohes Fest
„Weihnachten ist schön“, lautete der Arbeitstitel für dieses taz.mag. Ja, ehrlich! Wir haben Kollegen aufgefordert, gegen den Chor der Miesmacher anzuschreiben, der sich alle Jahre wieder formiert. Das Ergebnis sind vier Seiten, prall gefüllt – wie die Festtagsgans. Viel Spaß damit und schöne Feiertage!
Kommt heute!
„Erß-ein-dann-ßvei-dann-deyy-dann-viiiiaa“, dann – wird sie kreischend zur Wohnungstür rennen: „Krisskinn! Nikolaus! Weihnachssmann! O Tannebaum! Alle Leute! Iiiich! Ich mach auf!“
Sie wird den Türsummer drücken, sie wird ein paar Sekunden warten, sie wird mit der flachen Hand vor die Tür hauen, dann wird sie weinen und feststellen: „Kommt nicht.“ Sie wird sich trösten lassen, sie wird neue Hoffnung schöpfen: „Kommt bald.“
Auf ihrem Sofa wird das Bilderbuch der Bilderbücher liegen, aber sie wird den Kaiser Augustus, die Volkszählung und die ungastlichen Wirtsleute von Bethlehem überblättern, sie wird nur Augen haben für die beiden wundersamen Seiten gegen Ende der Geschichte, die eine mit Maria und dem dicken Bauch und die andere mit Maria – derselben Maria! – und dem flachen Bauch. Sie wird in die Hände klatschen und die Weihnachtsgeschichte in der kürzestmöglichen Fassung erzählen: „Baby raussekommen.“
Sie wird die Frage erwarten, was das Christkind ihr als Geschenk bringen soll, denn diese Frage kommt immer am Ende des Buchs, und weil die Vorstellung so schrecklich aufregend ist, dass da ein Baby, eben noch im Bauch, ihr etwas schenken wird, wird sie ihren größten Wunsch ans Christkind flüstern: „Kuchen“.
So wird es sein. Jede unserer täglichen Generalproben für den Heiligen Abend ist seit Wochen so verlaufen. So kann es nur sein. Und wir? Werden denken, dass Weihnachten, wenn man es mit einer Zweijährigen verbringen darf, vielleicht doch ein Geschenk des Himmels ist. HEIKE HAARHOFF
Klaviermassaker
Weihnachten bietet tolle Mittel und Wege, die ach so beschaulich um den Grünkohltopf versammelte Familie nach allen Regeln der Christenpflicht zu quälen. Mittel und Wege, gegen die an Weihnachten und nur an Weihnachten kein fein geschliffener Geschmack und keine UN-Menschenrechtscharta zu Felde ziehen dürfen. Und die gemeinschaftlich aufstöhnende Familie schon erst recht gar nicht.
Man nehme: das seit Auszug aus dem Elternhaus vor sich hin staubende Klavier. Und kratze die verbliebenen Reste sozialaufstiegsbeflissener Fingerdisziplinierung zusammen. Denn die sind nach langjähriger Ablenkung in Form von Aus- und Inlandsstudien, Zusatzausbildungen, Praktikaodysseen, Berufseinstiegsversuchen und Zuwendung zu anderen – gehofft weniger bürgerlichen – musikalischen Ausdrucksformen hinterrücks zusammengeschnurrt auf ein einziges elendes Stückchen Tastenkunst: „Das Weihnachtsglöckchen“.
Ein grauenhaftes Medley der beliebtesten Jahresendzeitsongs. Anspruchslos und unbeseelt jagen sich die ollen Kamellen, kaum haucht man die stille Nacht aus, klingen nach grober Überleitung auch schon fröhlich die Glocken.
Schon die ersten vier Töne der sorgsam fischerchorig gesetzten Introduktion lassen nach mittlerweile fünfzehn Jahren Wiederholung ohne Differenz die Familie aufschreien, den Pinkel im Grünkohl gammeln und das eigene Sadistenherz hüpfen. Oh wie schön ist dann Weihnachten!
KIRSTEN RIESSELMANN
Mayonnaisenglück
Meine Oma wusste, dass bei einem wirklich guten Mantel die Knöpfe abfallen, bevor man ihn das erste Mal trägt: „Das heißt, der Schneider hat sich auf die Nähte konzentriert, und auf die kommt es an.“ Sie wusste auch, wie man angelaufene Silberkettchen reinigt, auch ohne ätzende Politur: „Einfach auf eine Alufolie legen, Salz drüberstreuen, etwas Wasser drauf und warten.“
Aber ihr Salat, den sie wie so viele Berliner zu Weihnachten mit dick Mayonnaise machte, mit Ei, Apfel und sauren Gurken, krönte ihre praktische Lebensart: Nachdem sie die Gürkchen aus dem Glas gefischt hatte, kippte sie die würzige Flüssigkeit, in der sie gerade noch schwammen, einfach hinterher. Genauso macht es heute meine Mutter, jedes Jahr wieder. Und mit jedem Teller, den ich mir Heiligabend fülle, ist Oma wieder da: mit den weichen Händen, die Knöpfe an unsere Mäntel nähen, Mützen und Pullover stricken, mit ihrer warmen Stimme, die Geschichten von Kühen erzählen, die in Berliner Hinterhöfen Milch geben. GESINE KULCKE
Nicht ein Mensch
Dieses Jahr springe ich voller Lust ins Weihnachtspathos. Dieses Jahr wird das Fest der Ruhe. Nachdem ich die konsumfreudigste und lauteste Zeit des Jahres, die Vorweihnachtszeit, im konsumfreudigsten und lautesten Land der Welt, den USA, verbracht habe, freue ich mich auf jede Sekunde, in denen meine Ohren nicht von konsumanregenden Melodien geplagt werden.
Ich werde es genießen, endlich keine Meldungen über einen albernen Streit um den korrekten Gruß auf Weihnachtskarten, Supermarktbannern und Cornflakes-Packungen – Happy Holidays oder Merry Christmas? – mehr lesen, hören oder sehen zu müssen. Sollen sich doch Amerikas Konservative und Liberale darüber zerfleischen, ob man nun alle Religionen in das Weihnachtsfest mit einbezieht oder nicht.
Ich dagegen kann es kaum erwarten, schmatzend am Fonduetopf zu sitzen und dabei zu wissen, dass hinter dem Zaun des elterlichen Gartens im Umkreis von fünf Kilometern nicht ein Mensch wohnt, der Lärm machen könnte. Und meine Ohren jubilieren gut hörbar, wenn ich daran denke, dass bei uns auch an Weihnachten der Fernseher Nebensache ist und nicht Familienmittelpunkt. Stille ist mein Lieblingsgeschenk dieses Jahr. Scheiß aufs Pathos, das da so laut mitschwingt. DOMINIK SCHOTTNER
89, 87, 85 …
„Driving Home for Christmas“, „Last Christmas, I gave you my heart“ – wie sie alle heißen, die größten und besten Weihnachtshits aller Zeiten! Sie sind der perfekte Soundtrack für die alljährliche Heimfahrt zu den Eltern.
Zu Hause wird es Geschenke geben, gutes Essen und jede Menge elegant vergorenen Alkohol. Es geht meist schon am späteren Nachmittag los, vorglühen mit einem kalten Gläschen staubtrockenen Sekt. Zur Belohnung wird er serviert, weil der Weihnachtsbaum endlich in der vorgesehenen Ecke steht – alle Jahre wieder eine komplizierte Aktion, ein Ritual, wie es im Buche steht: das gemeinsame Drehen und Schieben, bis der Baum so wirkt, wie die Frau Mutter es gerne hätte: schön.
Zum Essen wird der erste Mosel-Riesling geöffnet, halbtrocken, mittelwertvoller Jahrgang, aus den frühen 90er-Jahren. Schmeckt gut zu Wildpastetchen und macht leicht im Kopf: „Weißt du noch, wenn wir früher in den Wald Pilze suchen gegangen sind?“ Ja, man weiß es noch, und die Pfifferlinge im Ragout schmecken noch einmal so gut.
Es wird im Keller der Erinnerungen gegraben, und auch der Weinkeller hat noch einiges zu bieten. Die Jahrgänge gehen im Laufe des Abends wie auf einer Digitalanzeige zurück: 89, 87, 85 … – die Weine werden immer süßer, schwerer, besser. Spätlese! Eiswein! Ach … Bis dann passiert, was eigentlich gar nicht passieren dürfte: „Möchte denn niemand mal ein Glas Rotwein?“ – die Ausbeute von der letzten Fahrt zum Alzeyer Winzer muss dringend verkostet werden. Nun ist alles zu spät.
Der Rest besteht aus einer wohligen Schwere. Alles kribbelt um den Solarplexus herum, ein Eintauchen in das Gefühl, noch einmal Kind zu sein. Geborgen und warm fühlt sich das an, früher hatte man keinen Alkohol dazu gebraucht. Und morgen früh sind wir Kinder dann auch wieder erwachsen. Ganz bestimmt. MARTIN REICHERT
Hüterin des Schatzes
Eingezäunt, als könnten sie sonst in den Wald zurücklaufen, stehen große und kleine Weihnachtsbäume mitten auf dem Marktplatz unseres Städtchens zum Verkauf. Am Nachmittag springen ringsum helle Lämpchen an, und es fällt auf, dass zwischen den vielen Fichten und Nordmanntannen ein Baum steht, der anders ist als alle anderen. Buschige Zweige streckt er in die Höhe, die Nadeln sind lang und fühlen sich genau so weich an, wie sie aussehen.
„O, Mama, bitte, den nehmen wir – nur den!“ Es war eine Kiefer, bestimmt zwei Meter hoch, und wenn wir auch schon mal einen Baum mit drei Spitzen hatten und einen so windschief gewachsen, dass keine Kunst ihn gerade rücken konnte – diese Kiefer war der eigenartigste aller Weihnachtsbäume. Wir schmückten ihn mit allem, was die Kommodenschublade mit dem über Jahre angesammelten Schmuck nur hergab, aber die kleinen roten Kugeln und die Wachsengelchen, die Sternenketten, Glasperlen und bunten Figürchen – sie wurden von diesem unersättlichen Baum verschluckt und verschwanden zwischen seinen buschigen Nadeln wie in einem Urwald, der hinter jedem Eindringling den grünen Vorhang wieder schließt. Immerhin gelang es, wenigstens ein paar Kerzen so anzubringen, dass die Nadeln darüber kein Feuer fangen konnten, und die traditionellen Körbchen mit den Süßigkeiten, sie versteckten sich diesmal auf reizvolle Weise, sodass man noch Tage nach Weihnachten in ihnen fündig werden konnte. Was speziell mich als die fürs stammkürzende Sägen und fachgerecht in den Schnappständer Einpassen des Baumes Zuständige betrifft, so bleibt mir die Kiefer insofern in guter Erinnerung, als dass ihre Nadeln so wunderbar weich waren und auch keinerlei Nadelneigung zeigten.
Die gemeine Fichte, irreführenderweise auch „Edeltanne“ genannt, sticht zu, wie sehr man auch mit Handschuhen und heruntergezogenen Pulloverärmeln vorsorgen mag, als sei sie mit der Brennnessel verwandt, und besonders ist es eine Strafe, die Kerzenleuchter anzuklammern, weil das schlecht mit Handschuhen möglich ist. Noch Wochen nach dem Fest liegen in den Fußbodenritzen und Wohnungsecken Tannennadeln herum, weil der Baum sie alle unterwegs verlor auf dem Weg zum Entsorgungsabtransport.
Aber Halt! – will ich die zierlichen, durchscheinenden Fichten etwa kritisieren? Sie sind es schließlich doch, die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Jahr für Jahr das Weihnachtszimmer prägen. Wie oft krochen wir durch feuchte Fichtenschonungen, um unseren Baum zu erkennen, manchmal in einem Pulk von Konkurrenten, manchmal ganz allein, in einem Irrgarten mit aufsteigenden Nebelschwaden und so eng stehenden Bäumen, dass jeder einzelne höchstwahrscheinlich eine erst nach dem Absägen erkennbare Astlücke haben würde. Einmal haben wir zu spät gesehen, dass der Baum von der Mitte ab ein siamesischer Zwilling war. Doch jede Fichte wurde auf ihre Weise geliebt, die Hüterin des Weihnachtsschatzes und Bewahrerin der Weihnachtszimmerstimmung. CORNELIA KURTH
Edith Müllers Kekse
Die Kekse meiner Mutter sind die absolute Sensation! Eigentlich hätte sie das zur Profession machen können: Edith Müllers Weihnachtskekse – die besten der Welt! Die Doppeldecker mit Orangenfüllung, Mini-Kokosbaisers, Marzipankirschkringel und das Mandelspritzgebäck werden in aufwändiger Handarbeit hergestellt.
Seit über 20 Jahren schickt sie diese Köstlichkeiten eine Woche vor Weihnachten aus Niedersachsen nach Berlin. Im Paket liegen zudem ein kleiner Tannenzweig aus eigenem Garten, zwei Herren-Slips und drei Paar Socken.
Ich weiß, dass mein Bruder Max einige wenige der kostbaren Kekse den Mitgliedern seiner Hardcoreband zur Verkostung geschenkt hat. Die Band heißt „Mutter“, und er ist – auch wenn er es nicht öffentlich sagen würde – wohl stolz auf die Meisterschaft unserer Mutter Edith Müller.
Auch ihre Weihnachtsgans ist absolut unübertroffen: kross, saftig, würzig. Niemand bekommt das so hin wie sie! Mein Bruder Max, meine Schwester Regina und ich haben viel von den Back- und Kochkünsten Edith Müllers gelernt.
Hier, im hochsommerlichen Buenos Aires, habe ich in einer kleinen Schokolaterie gerade ein Pralinenset gekauft – als kleines Mitbringsel. Argentinische Pralinen mit gegossenen Weihnachtsmotiven: Tannenzweige, Weihnachtsmänner, Kerzen. Das ist viel ungewöhnlicher als die hiesigen Rindersteaks. Die schmelzen zwar nicht in der Sommerhitze, aber argentinische Weihnachtsschokopralinen in Berlin zu verspeisen hat doch etwas ganz Besonderes, oder?
WOLFGANG MÜLLER
Seligkeitsdinge
„Geben, das ist eine freiwillige Übertragung einer Sache, die einem gehört, auf jemanden, von dem man meint, dass er nicht umhinkann, sie anzunehmen.“ So definiert der Ethnologe Maurice Godelier in „Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte“.
Godelier war wohl noch nicht bei mir zu Hause. Kann schon sein, dass sich im Rest der von ihm beobachteten Kultur Schenken mittlerweile auf den nüchternen Austausch von symbolischem Blödsinn beschränkt, der in den Geschäften unter der Rubrik Geschenkartikel zu finden ist. Auf meinem familiären Gabentisch aber geht es noch hoch her.
Ein Geschenk soll den Beschenkten glücklich machen. Ihm zeigen, wie man die Beziehung zu ihm definiert, was man in ihm sieht, was er des Schenkers Meinung nach noch alles machen, hören, lesen könnte. Ausgetauschte Liebe. Deswegen gibt es bei uns die Tradition des Seligkeitsdings.
Das Seligkeitsding ist das schönste Geschenk des Weihnachtsfests. Das, was man sofort anzieht, anliest, anhört. Das, was man, wenn dann endlich alles ausgepackt und aufgegessen ist, leicht beschwipst mit ins Bett nimmt. JUDITH LUIG
…Schleusenfahrt
Die magische Marke liegt kurz hinter Leipzig. Wenn sich der ICE aus dem modernisierten Messestadt-Bahnhof herausgeschlängelt hat, wenn nur mehr flaches, dezembergraues Wiesenland am Fenster vorbeirauscht, dann ist es kein Termin mehr, der organisiert sein will. Dann ist es ein Gefühl: Weihnachten. Leise, langsame, laue Tage. Ohne die lärmende, lästernde Hauptstadt.
Ausgerechnet der ICE ist es, der in die Stille der Provinz, in die heile, geborgene Dreitagewelt schleust. Ausgerechnet er, das Globalisierungsvehikel, 364 Tage pro Jahr im Einsatz für all die Handy-Laptop-Menschen, nur einmal im Jahr vollzieht er eine erstaunliche Wandlung. Im Innenraum des Zuges, in den Abteilen und Großraumwagons schnattern ältere Damen in ihre Handys, um jeden weiteren zurückgelegten Kilometer ihrem Schatzi zu Hause mitzuteilen, um Schatzi noch mal den Kühlschrankinhalt aufzuzählen, um noch einmal „Bis gleich, Schatzi“ zu sagen. Keine Anzugsjungs, die ihre Kommunikationskonzepte kommunizieren, ihre Geschäftspartner briefen. Nur aufgeregte Menschen, Alt und Jung, die dieses eine Mal im Jahr Hightech reisen, die ihre Koffer und Trollies bis aufs Blut verteidigen. Die ihre Plätze wie Jäger erobern. Und trotzdem lächeln – Weihnachtscharme. Denn die letzten Weihnachtsquengler sind jetzt in den Einkaufszentren und nicht in den Zügen.
Bis vor ein paar Jahren lag meine magische Marke ganz im Westen Deutschlands, kurz hinter Hannover. Aber das Ziel war das gleiche: die niederbayerische Provinz. Das 2.000-Einwohner-Dorf. Die Familie. Immer gute 600 Kilometer, immer gute sieben Stunden Schleusenzeit bis zu jenem Bahnhof, an dem mich Jahr für Jahr schließlich die gleiche brummige Männerstimme empfängt: mit einem bayerisch genuschelten „Landshut Haubtbahof“ aus den Lautsprechern. Und vor dem Bahnhof, da wartet der Privatshuttle, raus aufs Land. SUSANNE LANG
Flügel für Clarence
Verpackungen haben’s in sich. Das ist schließlich ihr Job. Sie können schamlos lügen („Nur ein Tropfen genügt“), trügen (Gammelfleisch) und in die Irre führen („Ohne Fett“).
Doch sie können auch anders: „Der schönste Weihnachtsfilm aller Zeiten“ steht auf der Hülle von „Ist das Leben nicht schön?“. Das ist gleich doppelt richtig: Ja-ja-ja!!!
„Ist das Leben nicht schön?“ (USA, 1946) erzählt die Geschichte von George Bailey (James Stewart), der sich das Leben nehmen will, weil er anderen immer nur gegeben hat und dabei nichts für ihn übrig blieb. Ausgerechnet der tolpatschige Engel Clarence soll ihn retten, der seit 200 Jahren auf seine Flügel wartet. „Die anderen lachen mich schon aus“, sagt er, als wäre er der Kleinste und Schwächste auf dem Schulhof. Man möchte ihn knuddeln.
Solche Details machen den tragikomischen Charme des Films aus. Regisseur Frank Capra hat haarscharf an der Kitschgrenze entlang inszeniert. Wenn George seinem Vater sagt: „Weißt du, was du für mich bist? Der gütigste Mensch, den ich kenne“, hat er sie zwar eindeutig überschritten. Doch es funktioniert: Mir schießen Tränen in die Augen. Noch immer. Immer wieder.
Beim ersten Gucken hat mit mir ein ganzes Theaterwissenschaftsseminar seine akademische Fassung verloren. Wäre doch gelacht, wenn der Film ausgerechnet Sie kalt lässt: Heiligabend um 23.05 Uhr im ZDF. Ist das Leben nicht schön? Meine Antwort kennen Sie. DAVID DENK
Gut, dass es Jens gibt
Schon mal ein Weihnachtsgeschenk bekommen, das einfach Mist war? Mit Sicherheit, oder? Manchmal würde man das dem Schenker auch gern sagen. Macht man aber nicht – schon gar nicht auf Familienfesten!
In solchen Situationen denke ich mir immer: gut, dass es meinen Bruder Jens gibt, lehne mich entspannt zurück und versuche, nicht allzu auffällig zu grinsen. Dank seiner geistigen Behinderung ist er nämlich von lästigen Konventionen vollkommen frei. Wenn dann zum Beispiel die Tante freudig zum Beispiel mit einem Fußballbuch ankommt (O-Ton: „Fußball mag er ja schließlich, und da kann er dann gleich noch lesen üben“), reagiert er prompt: „Nimm es wieder mit. Du weißt doch ganz genau, dass ich so einen Mist nicht brauchen kann.“ Oder aber das gute Stück wird im Beisein des Schenkers direkt weiterverschenkt – meine persönliche Lieblingsvariante.
KERSTIN SPECKNER
Wahlverwandtschaften
Seit Jahren kellnere ich am 24. Dezember. Das hört sich nicht schön an, sondern armselig, nach defizitären Familienstrukturen, nach Schnaps und Tränen im Bierglas. Ganz falsch! Kellnern an Heiligabend ist für mich die schönste Art, das Fest zu verbringen.
Ungefähr um halb zwölf ist die Familienfeier inklusive Messe zu Ende, und ich muss schnell in das Lokal, in dem ich arbeite: eine alte Augustiner-Wirtschaft, eingerichtet im Stil einer 50er-Jahre-Transit-Autobahnraststätte mit einem Bilderzyklus an der Wand, der den Feierabend der Fabrikarbeiter aus den Dreißigerjahren darstellt. Ich komme immer zu spät, es ist immer schon viel los, und der Barkeeper, der bis dahin alles alleine gemacht hat, ist immer schon ein bisschen gestresst.
Außer uns beiden arbeitet nur noch ein DJ, der das schönste Musik-Kuddelmuddel anstellt, das ich kenne. Auch die Gäste sind fast immer dieselben, und fast alle sind satt und zufrieden. Manchen merkt man an, dass sie froh sind, endlich aus der Glühwein-Familien-Runde entkommen zu sein und jetzt ein schlichtes Bier trinken zu können. Andere freuen sich, wieder da zu sein aus der Ferne, wohin es sie wegen Arbeit oder aus anderen Gründen verschlagen hat. Für manche ist dieser Abend in der Kneipe das wichtigere Familientreffen – das mit der Wahlverwandtschaft. Mindestens einer ist immer ein wenig melancholisch. Und einer trinkt zur Feier des Abends kein Weißbier wie sonst, sondern einen schönen Rotwein. Dann stellt er fest, dass er nicht umsonst immer Weißbier trinkt, und bestellt sich sofort eins.
Manche Gäste sehe ich nur einmal im Jahr, an diesem Abend, und ich freue mich jedes Mal wieder darüber. Sie erzählen mir von ihrem Weihnachtsfest und von den Geschenken, die sie bekommen haben. Andere sind zwar fast jeden Abend da, sind aber plötzlich kaum wieder zu erkennen, weil sie Kleid oder Krawatte tragen und darin so seriös aussehen.
An keinem anderen Abend im Jahr lassen mich die Gäste so stark spüren, dass sie froh sind, hier zu sein. Und froh darüber, dass ihnen jemand das bringt, was sie wollen. Ohne an ihrem Äußeren rumzumeckern oder sie in eine bestimmte Stimmungslage quetschen zu wollen. Dass sie dafür Geld bezahlen müssen, nehmen sie wohl in Kauf.
Meistens verlassen die letzten Gäste das Lokal um vier Uhr, wir putzen noch ein wenig und machen die Abrechnung. Dann setze ich mich zur Feier des Tages in ein Taxi, das mich nach Hause bringt. Schlafen legen und ausruhen, schließlich steht am nächsten Tag die große Großfamilienfeier an – das wird dann eher anstrengend. Aber auch schön.
CHRISTINA KRETSCHMER
Adrienne abroad
Macys Thanksgiving Parade, Santa-Karten mit Musik. Was mir zu Hause die Haare zu Berge stehen lassen würde, wird in der amerikanischen Fremde Teil des zu studierenden Objekts: „Guck mal, die Amis!“ Schlafanzüge mit Weihnachtsmann oder Puddingformen in Rentier-Optik sind nicht mehr zum Kotzen. Die Anschaffung des lebensgroßen Schlittengespanns aus Glühlämpchen (19,90 Dollar) für den Vorgarten wird zur Grenzerfahrung.
Auf einmal will ich es den neuen Freunden zeigen, kann plötzlich kaum an mich halten, als die beiden Nachbarinnen darüber beraten, ob der an die Tür genagelte Adventskranz besser mit Nagel- oder Acryllack haltbar gemacht wird. Neiiin! Ein Adventskranz gehört auf den Tisch, mit vier Kerzen drauf und muss nicht nach Bratapfel-Kiwi duften. Ganz kultivierte Europäerin, bastele ich mit kreativem Furor seit Jahren mal wieder. Ich besorge Haarnadeln und montiere die handgedrehten Bienenwachskerzen. Besucher sind begeistert: „It’s really cool!“
Ja, auf einmal möchte ich das ganze Arsenal auffahren: Adventskalender, Elisen-Lebkuchen, Erzgebirgsengelchen und eine echte Tanne. Stille Nacht. Was ist bloß in mich gefahren? Au weia, die Fremde kocht einen doch ganz schön weich, Entschuldigung! Ein echter Albtraum. Weihnachten kann doch gar keinen Spaß machen, oder? ADRIENNE WOLTERSDORF
Stiller Tag
Die Strandpromenade, morgen wird sie wieder gefüllt sein mit Menschen. Heute nicht, natürlich nicht. Meinst du, wir werden langsam wunderlich, den 24. hier zu verbringen, wo nichts los ist?
Damals der erste Heiligabend ohne Familie war überhaupt nicht geplant gewesen. Zumindest nicht vom Kopf. Vom Körper vielleicht. Der Schnupfen war schnell gekommen, der Glühschädel noch schneller: achtunddreißig-fünf. Es hatte keinen Sinn, nach Hause zu fahren. Oder? Die Familie am Telefon sah das genauso. „Wir holen dich!“, sagte keiner. Also Weihnachten im Bett, mit Fernsehen am Nachmittag, plötzlich ganz ruhig. Kein Nachbar im Haus, alle fort. Ungewohnt und schön, geradezu besinnlich. Als es auch noch ein wenig zu schneien begann, hätte es gar nicht besser sein können. Ein Gefühl von Freiheit. Lag es am Fieber?
Die Musikmuschel im Kurpark sieht noch unbespielter aus als sonst. Auf dem Weg zur Steilküste heute keine klingelnden Radfahrer. Siehst du eine Ostseefähre? Nicht mal die fahren.
Die „Tagesschau“, danach ein Weihnachtsfilm, schwarzweißes Hollywood mit einem eigenartig traurigen Happy End. Und immer noch dieses leichte Gefühl. Ob sie daheim jetzt wohl um den Braten herumsaßen, mürbe vom stundenlangen Warten auf die Bescherung? Oder würde die Stiefmutter erst noch wieder unter Tränen die Treppe putzen müssen, um 22 Uhr? „Mir hilft ja keiner!“ Oder ob doch alles schon vorbei war und „der gemütliche Teil“ angefangen hatte? Auf einem anderen Sender gab es noch einen netten Film.
Vom Meer weht ein leichter Wind, schmuddelig grau ist es. Nicht schlimm. Der Stopp bei der Konditorei muss heute ausfallen, für die wenigen Gäste würde der Betrieb ja gar nicht lohnen. Zu Hause wird es später einen warmen Apple Crumble geben mit Schlagsahne. Jetzt aber noch ein paar Kilometer weiter, mindestens bis zu diesem lächerlich protzigen neuen Haus mit Meerblick. Was meinst du: Ob dort wohl heute Menschen sein werden? Und dann in einem fast leeren Zug zurückfahren, einmal im Jahr. Seltene Gelegenheit. Schön. REINHARD KRAUSE
Fun-Freitag
Ein Paar ist unterwegs. Es ist Freitagabend, der Mittelklassewagen rollt vom Berliner Vorort Richtung Ausgehviertel. Der CD-Player bringt Kettcar zum Vortrag, im Kofferraum rollen zwei gute Flaschen Rotwein umher.
Das Paar ist eingeladen. Im Ausgehviertel, wo es selbst einmal gelebt hat – gern gelebt hat –, hat ein befreundetes Paar eine Biogans in den Ofen geschoben. Seit nun schon erstaunlich vielen Jahren kennt man sich, dieses Weihnachtsessen hat Tradition.
Andere Paare werden auch da sein. Alle, bis auf die Gastgeber und die beiden im Mittelklassewagen, kommen inzwischen in veränderter Besetzung als zur ersten Gans, die noch aus Polen kam. Die Kinder, damals noch sehr, sehr klein, saßen auf den Knien der Eltern und pickten ein bisschen Rotkohl und Kartoffeln von deren Tellern.
Das Paar im Auto hat die eigenen beiden Kinder im Vororthäuschen zurückgelassen, es ist Fun-Freitag auf Sat.1. Im Auto hämmern jetzt die White Stripes. Wo die Autobahn endet und zwischen Tankstellen und Fastfood-Restaurants die ersten Berliner Mietshäuser auftauchen, schaltet die Ampel auf Rot. Weich rollt das Auto aus, das Paar schaut sich um. Da, an der Fußgängerampel, wuchten gerade eine Mutter und ihr halbwüchsiger Sohn einen Tannenbaum hoch. Zweieinhalb Meter hat der sicher, die Zweige sind von einem starken Netz eng an den Stamm gepresst – man kann gut sehen, dass der Baum schwer ist. Zu Hause werden sie ihn aufstellen, die Nadeln werden ihnen in die Finger stechen, auf die Krone wird ein glatt gestrichenes Etwas gesetzt, das der Sohn vor Jahren im Kindergarten gebastelt hat.
„Eigentlich schade, dass wir nie einen Weihnachtsbaum hatten“, sagt die Frau und legt den ersten Gang ein – gleich wird es grün. Der Mann schaut sie fragend an. „Ja“, sagt sie, „das meine ich tatsächlich. Jetzt sind die Kinder groß und haben nie einen anständigen Weihnachtsbaum gehabt.“ Der Mann widerspricht. „Die Kinder hatten sehr wohl einen: bei deinen Eltern.“ Die Frau schaut resigniert – dieses Gespräch ist dutzendfach geführt. Es wird grün.
Sie könnte ihm wieder mal vorhalten, denkt sie bei sich, dass nur seinetwegen nie ein Weihnachtsbaum gekauft werden durfte. Bei der allerersten Erörterung dieses Themas – da waren sie Anfang zwanzig – hatte er klar gestellt: zusammenziehen, Kinder, Couch-Erwerb – alles. Aber kein Weihnachtsbaum! Als Grund wurde der weihnachtliche Terror der Bürgerlichkeit in seinem südwestdeutschen Elternhaus ins Feld geführt. Das musste all die Jahre reichen.
Das Paar ist jetzt im Ausgehbezirk angekommen. Die Frau sucht in der engen Straße nach einem Parkplatz. Sie bringt den CD-Player zum Schweigen – sie muss sich konzentrieren, keinen Radfahrer ohne Licht umzufahren. Eigentlich, denkt sie, hat er Recht. Wer braucht schon einen Weihnachtsbaum? Cool bleiben.
Drei Tage später tritt der Mann eine zweiwöchige Reise an, die Frau bringt ihn mit dem Mittelklassewagen zum Flughafen. Noch auf der Fahrt zurück in den Vorort fährt sie rechts raus.
Der Baum ist schwer, beim Aufstellen zu Hause zersticht er ihr und den Kindern die Finger. Und weil er so ausladend ist, müssen sie den Esstisch einen halben Meter nach links rücken. Aber das ist kein Problem – bis zum Freitag vor Weihnachten bleiben sie zu dritt, mit Baum zu viert. ANJA MAIER
Kerzengerecht
Alle Jahre wieder saßen drei Brüder und ein paar Freunde – schon ein bisschen festlich gekleidet – mit Cola und Popcorn vor der Leinwand. Und weil die Kinos am 23. Dezember richtig voll wurden, besorgten wir schon Tage im Voraus die Karten.
Wir machten das auch, weil wir Mutter auf keinen Fall dabei stören wollten, möglichst viele Geschenke einzupacken – aber vor allem lag es an Vater und dem Christbaum.
Papa ist nämlich Christbaum-Wissenschaftler. Er weiß alles über „Koniferen“ – und wahrscheinlich oft noch viel mehr. Das bekommen jedes Jahr zuerst die Christbaumverkäufer zu spüren, die mein Vater schon vor dem ersten Advent beehrt. Er doziert nicht nur über ideale Höhe und Form des Baums, sondern vor allem über den kerzengerechten Wuchs. Elektrische Christbaumbeleuchtung ist in unserer Familie tabu. Ich sage nur: „Echte Bienenwachskerzen“. Wer braucht schon einen Eimer Wasser neben dem Baum, wenn er beim Einkauf darauf geachtet hat, dass die Äste weit genug übereinander und ausreichend versetzt gewachsen sind? Dann kann eine Kerze ja gar keinen Ast über sich ankokeln.
Aber damit nicht genug der Wissenschaft. Um einen Baumbrand weiter zu vermeiden und nach dazu einen schönen Baum zu haben, wird die Nordmann-Tanne oder Douglasie – eine Fichte hatten wir noch nie – schon Tage vor dem Fest aus dem Netz geschält und in den Christbaumständer gestellt, damit sich Äste und Zweige wieder richtig aushängen und setzen können.
Am Abend des 23. schmückte mein Vater früher traditionell den Christbaum. Das hieß: Papa darf nicht gestört werden! Wir haben das schnell begriffen und sind ins Kino geflohen. Deshalb habe ich auch nur wenige, dafür aber sehr eindrückliche Kindheitserlebnisse, wie dieses Baumschmücken vor sich geht: Mein Vater steht zwischen drei Pappschachteln, groß wie Seemannskisten, mit Schmuck, der für drei Bäume reicht. Es war dann immer eine bestimmte Kugel, die zuerst aufgehangen wurde, aber selten auf Anhieb perfekt saß. Wie ein Künstler machte mein Vater drei Schritte zurück, betrachtete das Werk, trat dann wieder an den Baum heran und suchte sich einen neuen Ast, zwei-, drei-, viermal. Und manchmal ging ihm das Schmücken leicht von der Hand, scheint mir heute, und oft war es eine Arbeit, bei der ihm auch mal ein Fluch entfuhr oder ihm vor Ungeduld und Unachtsamkeit eine Kugel in der Hand zerbrach. Stunden schweigsamer, höchster Konzentration.
An das alles erinnere ich mich jedes Jahr, wenn der erste Satz Bienenwachskerzen brennt, „Stille Nacht!“ läuft und ich die eine, die erste, Kugel suche, die nach innen gebeult ist. Und auch wenn mein Vater heute viel routinierter den Baum schmückt als früher, es kommt von Herzen, wenn wir alle sagen: „Es ist heuer wieder ein schöner Baum.“ JÖRN KABISCH
Lichter
Weihnachten hat mit Kindheit zu tun. Nie war es schöner, zumindest der Erinnerung nach, als in diesen frühen Jahren. Wenn ich heute Weihnachten feiere, hat das Fest für mich deshalb Bedeutung, weil diese Erinnerungen wieder kommen – die Lichter im Dunkeln, der Geschmack von Vanillekipferl oder Stollen, der Geruch des Weihnachtsbaums und der Kerzen.
Das euphorische Gefühl in der Kindheit – „Heute ist Weihnachten!“ – werde ich nicht wieder finden, sosehr ich mich manchmal danach sehne. Aber wenn ich die tatsächlich glänzenden Augen meiner Kinder vor dem Weihnachtsbaum sehe, weiß ich: Ich mag älter werden (was einem dann schmerzlich bewusst wird) – der Mythos „Weihnachten“ aber bleibt ewig jung. Oder ist zumindest nicht totzukriegen.
Natürlich geht es auch um Geschenke, vor allem in der Kindheit. Aber die werden, je älter man wird, immer unwichtiger. Wichtiger wird dann das Treffen mit der Familie und alten Freunden, die alten Familiengeschichten, der neueste Tratsch, die Running Gags, das leckere Essen, der edle Wein, die Musik und die Zeit für Bücher, die einfach nur schön sind und nichts bringen müssen.
Sicher, manchmal gibt es Streit oder leichtes Gegifte mit Eltern und Geschwistern vor dem Christstollen. Um den Familienfrieden zu wahren, wird vieles verdrängt. Ab und zu bin ich froh, wenn es bald wieder vorbei ist. Aber all dies kleine Generve kann den Freuden von Weihnachten nichts anhaben.
Und dann gibt es noch die religiöse Seite: Weihnachten mag ja heillos verkitscht, kommerzialisiert und banalisiert worden sein – aber manchmal packt sie mich doch noch, diese wohl schon hundertmal gehörte Geschichte von einem Gott, der als armes, uneheliches, schutzbedürftiges und obdachloses Kind auf die Welt kommt, als Mensch mitten hinein ins Elend und Glück der Menschen, denen er den Frieden bringt. Manchmal glaube ich daran. Dann ist Weihnachten am schönsten. PHILIPP GESSLER
Der Alte
Neulich wollte mein Vater, der Alte, wissen, wo man am besten Diktiergeräte kaufen könne. Aha, bei Saturn am Hauptbahnhof. Na, dann fahre er dahin. Ist das nicht ein bisschen voll, jetzt, in der Vorweihnachtszeit? Nein, kein Problem, er könne ja fragen. Er kann fast nicht mehr sehen, aber alle Hilfe, die auch Beinahblinde in Anspruch nehmen können, will er nicht. Niemals.
Er verzichtet auf sein Skatspielen, auf Zeitungen in Brailleschrift – schlimm genug, dass er nicht mehr Auto fahren darf. Hilfen wären Eingeständnisse von Bedürftigkeit – sein innerer Tod. So müssen wir, seine Kinder, das wohl verstehen.
Ein Diktiergerät, das kann er selbst kaufen. Also stürzte er sich in den Weihnachtstrubel – und hatte schließlich eines erworben. Wie es funktioniert, wusste er nicht. Dann ließ er es sich von mir erklären, setzte sich neben mich, damit ich seine Hand an den Reglern und Knöpfen führen könne. Nach einer halben Stunde und dem Satz, man habe selbst immer geglaubt, keinen Computer bedienen zu können, aber irgendwie sei es immer doch gegangen, machte er sich ans Werk. Übte sehr verbissen, mit viel Cognac nebenbei zur Ermutigung, spulte die Mikrobänder vor und zurück, Tonproben noch und nöcher. Und hinterließ schließlich eine fast zweistündige Ansprache an seine Kinder und Enkelkinder, fertig gestellt kurz vor dem Heiligabend.
Es gibt eine Kassettenrecorderaufnahme seiner Frau, „der Mutter meiner Kinder“, wie er sie noch immer, viele Jahre nach ihrem Unfalltod, nennt. 38 Sekunden ist sie kurz, zufällig entstanden. Er hört sie sich an und weiß sie dann nah.
Jetzt spricht er selbst, es geht um das, was er seinen Nachruf in eigener Sache nennt. Dass sie, seine Kinder, sich gut an ihn erinnern sollen, dass er immer nur das Beste gewollt habe und trotzdem die meisten Fehler, die man machen könne, nicht vermieden habe, dass seine Kinder sein ganzer Stolz sind und die Schwiegertöchter ihm auch alle gefielen, nur sein Ältester, der sei noch allein, und das ginge nicht, das sorge ihn sehr, nun möchte er doch mal einen anbringen, der ihm gefalle, einen Schwiegersohn wie seine Schwester, er möchte nicht von dieser Welt gehen, ohne dass dies alles geregelt sei. Außerdem möge nicht vergessen werden, dass er im Leben nie etwas anderes wollte als eben uns, seine Kinder.
Mehr könne er jetzt, zur Weihnachtszeit, nicht sagen, zu Papier dies zu bringen wäre seine Sache nicht. Sein Wunsch: „Weihnachten seid nie allein.“
JAN FEDDERSEN
Liesel und LSD
„Möchtest du zu Weihnachten eine Weihnachtsgeschichte lesen? Ich nicht!“– „Aber erzähl doch trotzdem …“ Ich begann: Früher haben meine Eltern mir zuliebe Weihnachten gefeiert, aber irgendwann dann nicht mehr. Erst während der Schleyer-Entführung habe ich noch einmal ein Weihnachtsfest mitgekriegt. Ich war damals als Wanderknecht mit meinem Pferd unterwegs – und kam abends in der Nähe des Nürburgrings an einen Hof, wo ich den Bauern um ein Quartier für die Nacht bat. Er war erst unwillig, aber dann bat er mich doch rein. Den Ausschlag gab wie immer mein Pferd, das einen warmen Platz im Stall bekam.
Am nächsten Tag bat mich der Bauer, noch kurz mit seinem alten Vater zu sprechen, der krank im Bett lag. Er hatte Speiseröhrenkrebs und nicht mehr lange zu leben, wusste das aber nicht und ging sogar davon aus, bald wieder arbeiten zu können. Das Reden fiel ihm schwer und er spuckte Blut, wurde aber gleich ganz munter, als ich ihn in ein Gespräch über Landwirtschaft verwickelte. Am Schluss bat er mich, noch ein paar Tage zu bleiben, außerdem sollte ich mir sein Pferd, die Liesel, ankucken, die auf einer Hangweide im Wald stand. Sein Sohn zeigte mir den Weg dorthin. Die Weide war riesig. Es war kalt und neblig, das Pferd, ein dicker rotbrauner Kaltblüter, graste weit weg unter einem Baum, der als einziger seine Blätter noch nicht verloren hatte – sie waren in allen Farben geradezu explodiert. Aus dem Wald kam ein alter Mann auf mich zu. Zusammen blickten wir auf das Pferd unter dem Baum.
Der Mann stammte aus dem Nachbardorf und war ein guter Freund des kranken Bauern. Er erzählte mir, dass sie sich meistens in der Kneipe getroffen hätten. Der Bauer sei mit Pferd und Wagen dorthin gefahren. Wenn er betrunken war, legte er sich auf den Wagen und Liesel brachte ihn nach Hause. Wenn er zu betrunken war und in der Kneipe blieb, ging Liesel irgendwann ohne ihn los und wieherte dann leise auf dem Hof: Sein Sohn und seine Schwiegertochter holten den Alten dann mit dem Auto ab. Während mir der alte Mann das erzählte, liefen ihm dicke Tränen über das Gesicht. „Der Bauer hat immer noch mit der Liesel geackert. Wenn er stirbt, kommt sie zum Schlachter …“
Der Baum leuchtete zu dieser traurigen Geschichte immer knalliger – wie auf einem LSD-Trip. Aber um es kurz zu machen: Sie baten mich, noch ein paar Tage „über Weihnachten“ zu bleiben. Ich musste nichts tun, außer mich mit dem alten Bauern zu unterhalten. Zwischendurch ging ich immer mal wieder zur Hangweide und fütterte die Liesel mit Süßigkeiten. An Heiligabend fuhr die Familie in die Kirche, ich blieb bei dem Alten. Er erzählte mir, dass und warum es besser sei, mit einem Pferd zu arbeiten als mit dem Traktor. Ich pflichtete ihm bei, aber er glaubte mir nicht. Er dachte, die Jungen, damals war ich um die dreißig, hätten für solch eine antitechnologische Einstellung, oder wie soll ich sie nennen?, nur Verachtung übrig.
Eigentlich habe ich den ganzen Abend damit verbracht, ihn davon zu überzeugen, dass ich seiner Meinung war. Aber seine Einstellung war nun mal, dass er sich von jungen Leuten nicht überzeugen ließ. HELMUT HÖGE