: Suche in der Düsternis
Sprunghaft und sperrig, aber voll zeitdiagnostischem Furor und reich an literarischen Reminiszenzen: Reinhard Jirgls neuer Roman „Abtrünnig“
Reinhard Jirgls Romane bilden eine eigene Welt. Eigensinnig sind sie in der Interpunktion, kühn in der Wortakrobatik, unerbittlich in ihrem Blick auf Gegenwart und Vergangenheit. „Abtrünnig“, das neue Buch, das sich im Untertitel „Roman aus der nervösen Zeit“ nennt, bildet keine Ausnahme. Wie in „Hundsnächte“ (1997), in „Die atlantische Mauer“ (2000) oder in „Die Unvollendeten“ (2003) erforscht Jirgl die Existenz seiner Figuren vom Scheitern, das Leben vom Tode her. Jeder Hinterhof riecht nach Moder, jeder Altbau ist eine Ruine im Wartestand, jede Wohnung ein steinernes Grab. Die Figuren verfangen sich in Intrigen. Mal sind es solche, die im Dunkeln agierende Player spinnen, mal solche, die aus den Zeitläuften selbst entstehen. An Entkommen ist kein Gedanke: „Wer solch Gewebe zerreißen will, an dem bleibt Was hängen: die Speichelfäden der Lächerlichkeit.“
„Abtrünnig“ hat zwei Protagonisten: Der eine arbeitet als Grenzschützer in Frankfurt (Oder), bis er einer Frau aus der Ukraine bei der illegalen Einreise hilft. Nachdem er den Dienst quittiert hat, verdingt er sich als Taxifahrer in Berlin. Der andere – seine Geschichte nimmt deutlich mehr Raum ein als die des Grenzschützers, über weite Strecken erzählt sich „Abtrünnig“ aus der Ich-Perspektive dieses Mannes – ist Journalist, genauer: Feuilletonist. Der Liebe wegen zieht er von Hamburg nach Berlin. Seinen Alkoholismus hat er überwunden, die Trennung von seiner langjährigen Ehefrau auch, doch zurecht findet er sich weder in der neuen Stadt noch mit der neuen Frau.
Jirgl verzichtet darauf, die beiden Erzählstränge in einer Parallelmontage anzuordnen. Er lädt sie vielmehr auf: mit essayistischen Einschüben, Traumpassagen, Manuskriptfiktionen und einem Hyperlink-Verfahren, das das Buch in sich vernetzt, sodass sich ein nichtlineares Lesen anbietet. All dies bedingt, dass „Abtrünnig“ kein Text aus einem Guss ist, sondern ein Konvolut, sprunghaft, sperrig, reich an literarischen Reminiszenzen.
Der Roman spielt in der Gegenwart und hat, was den zeitdiagnostischen Furor anbelangt, einiges zu bieten: Etwa wenn eine der essayistischen Passagen davon handelt, was sich hinter Begriffen wie „lebenslanges Lernen“ und „Bricolage-Biografie“ verbirgt: „Andererseits heißt der verfügte Zwang, über seine Gesamtlebenszeit mehrere Jobs auszuführen, dh. ständig um- bzw. neulernen zu müssen, die permanente Abwärtsqualifizierung des Menschen betreiben; denn ständiges Neulernen-Müssen bedeutet letztlich keinen Beruf wirklich zuende gelernt haben – der Begriff Erfahrung (Synonym für Dauer u Alter) wird, weil alles nichtglobalisierte Wissen Störung ist, aus der Werteskala entlassen.“
Zugleich webt „Abtrünnig“ die Vergangenheit in sich ein. Nie ist es weit zu den Demütigungen, die die DDR für ihre Bürger bereithielt, und nie vergessen ist der Terror des Nationalsozialismus. Einen seiner Gipfelpunkte findet der Roman in den Passagen, in denen der Ich-Erzähler zu einem Klassentreffen in seinem Heimatort fährt, einer Kleinstadt im Wendland. Sein Plan ist es, seine ehemaligen Lehrer und Mitschüler mit einem Verbrechen zu konfrontieren, das sich im April 1945 ereignete. Eine Bürgerwehr tötete damals KZ-Häftlinge, nachdem diese sich aus einem Transportwaggon befreit und im Wald nahe der Kleinstadt Unterschlupf gefunden hatten. Zu dieser Bürgerwehr gehörten auch einige der zum Klassentreffen eingeladenen Lehrer.
Doch die Konfrontation bleibt ohne Konsequenz: Auf die Rede des Ich-Erzählers folgt Schweigen, der Konter des selbst in die Morde verstrickten, ehemaligen Schulleiters Beifall. „Das trieb mich wie Ohrfeigen vor die Saaltür; die öffnete sich nach Draußen & Kellner trugen Tabletts voller Teller mit fettrüchiger gelber Suppe herein. Beinahe hätt ich dem 1. Kellner beim Hinauslaufen das Tablett aus den Händen gestoßen. 1 Gedeck würde er ohnehin wieder mitnehmen müssen.“ In der Episode von dem Mord an den KZ-Häftlingen hallt etwas nach, was in „Hundsnächte“ auftauchte: Dort war immer wieder von einem Transportwaggon, von Häftlingen und von einem Verbrechen die Rede, ohne dass sich die Anspielungen zu einem Ganzen gefügt hätten. Als wanderte die Geschichte von einem Roman zum anderen, findet sie nun ihre Auflösung.
Ähnlich verhält es sich mit einigen Motiven, die Jirgl romanübergreifend einsetzt. In „Die Unvollendeten“ etwa ist es ein weit geöffneter Mund, in dem spitze Zähne wie die Beißwerkzeuge eines kleinen Raubtiers sitzen. Dieser Mund transformierte sich bisweilen in „das schwarze O“, das wie ein Statthalter auftauchte, sobald Ereignisse zu grausam waren, als dass sie noch beschreibbar gewesen wären. In „Abtrünnig“ wird dieses Motiv variiert. „Den kleinenbösen Mund reißt sie bei jedem Bissen gewaltig auf, Marder-Zähne entblößend“, heißt es einmal und kurz davor: „Das Gebiß als Hüter für Sprache; die Zähne zerkleinern die fleischliche Substanz der Wörter.“
Das Gefüge der Motive mag in „Abtrünnig“ nicht so dicht sein wie in den vorangegangenen Büchern, auch mag Jirgl das Feld zu oft dem Selbst- und Weltekel seines Ich-Erzählers überlassen. Dennoch gelingen ihm großartige Passagen – etwa die, in der der Werdegang einer namenlosen Figur verfolgt wird: das Heim, die NVA, die Universität, der Verweis, eine stupide Lehre, schließlich die Einsiedelei im Wald.
Hier hat die Prosa jene messerscharfe Klarheit, die Jirgls Schreiben auszeichnet: Ein Schreiben, das nie aus den Augen verliert, dass es sich in der Düsternis nicht gemütlich einrichten will, sondern nach etwas sucht: „Nach Auswegen. Irgendwo müssen Die gewesen sein: in der Geschichte die Not-Ausgänge. Denn Nichts hat genauso=kommen !müssen, wie es gekommen ist.“ CRISTINA NORD
Reinhard Jirgl: „Abtrünnig“, Hanser, München 2005, 544 Seiten 25,90 €