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Archiv-Artikel

Vertrauen wir ihnen?

DIAGNOSEN Unser Autor hat sechs Nachwuchspolitiker für uns porträtiert. Darunter Ilse Aigner, Boris Palmer, Katja Kipping. Jetzt denkt er noch einmal darüber nach: Was macht gute Politiker aus?

Der Persönlichkeitscheck

■ Die Serie: Der Sozialpsychologe und Führungskräftecoach Dr. Christian Schneider hat für die sonntaz in den vergangenen Monaten Protagonisten der kommenden Politikergeneration getroffen. Was treibt sie an? Wie ticken sie? Was ist von ihnen zu erwarten?

■ Der Autor: Christian Schneider lebt in Frankfurt am Main. Er promovierte bei Oskar Negt, lehrte an den Universitäten Hannover und Kassel.

■ Die Folgen: Boris Palmer, Grüne, nachzulesen unter taz.de/diagnose1; Katja Kipping, Linkspartei, taz.de/diagnose2; Carsten Schneider, SPD, taz.de/diagnose3; Patrick Döring, FDP, taz.de/diagnose4; Julia Klöckner, CDU, taz.de/diagnose5; Ilse Aigner, CSU, taz.de/diagnose6

VON CHRISTIAN SCHNEIDER (TEXT) UND FELIX GEPHART (ILLUSTRATION)

Will man diesem Mann oder dieser Frau wirklich die Zukunft des Landes und seiner Kinder anvertrauen?“, fragte unlängst der Spiegel in einem Artikel über den Unglückskanzlerkandidaten Peer Steinbrück von der SPD. „Zukunftsfähigkeit“ ist das A und O jedes Spitzenpolitikers. Dabei spielen Kompetenzvermutungen wie: Er oder sie durchschaue das komplizierte Geflecht der Weltwirtschaft oder könne den Platz Deutschlands im globalen Machtgefüge absichern, kaum eine Rolle mehr; das Gros der Bürger bezweifelt, dass es möglich sei.

Die Pointe der Frage steckt im Wort „anvertrauen“. Die Basisqualität von Politikern, das Pfund, mit dem sie wuchern, ist die Fähigkeit, Vertrauen zu vermitteln. Oder besser: einzusammeln. Dass Macht nicht ohne Vertrauen funktioniert, bildet den Grundsatz jeder politischen Verhaltenslehre. Also auch jeder politischen Psychologie.

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Wann vertrauen wir einem Menschen? Dem soziologischen Meisterdenker Niklas Luhmann zufolge ist „vertrauenswürdig …, wer bei dem bleibt, was er bewusst oder unbewusst über sich selbst sichtbar gemacht hat“. Im Vertrauensverhältnis gehen wir also einen Pakt mit der vermuteten Identität des anderen ein. Was immer das Risiko impliziert: Ist er tatsächlich der, für den wir ihn halten? Oder nur ein guter Schauspieler? Jemandem zu vertrauen ist ein Identitätsspiel, dessen Kern eine Ähnlichkeitsvermutung ist: Er oder sie ist wie ich – irgendwie. In diesem Irgendwie spielt sich das psychologische Innenleben moderner Demokratien ab. Ich vertraue jemandem letztlich, weil er meiner Meinung nach ein Leben hat, das meinem – irgendwie – ähnlich und insofern „normal“ ist.

„Soziales Vertrauen“, sagt Jan Philipp Reemtsma treffend, „ist ein permanent praktisch vor Augen geführtes Konglomerat von Annahmen über die Welt als Normalfall.“

Das Leben derer, denen wir politisch Vertrauen schenken, kann mittlerweile sehr verschieden aussehen, das Spektrum des „Normalfalls“ hat sich erweitert: Single oder Familienmensch, Hetero oder Homo, Bayreuth oder Backstage, urdeutsch oder Migrationshintergrund – alles scheint möglich, solange es „authentisch“ wirkt. Nur wer authentisch, unverfälscht lebt, führt in unseren Augen ein verantwortliches Leben. Aus dieser Konstellation bildet sich die politisch entscheidende V-Achse: Wem vertraut wird, dem wird automatisch auch Verantwortungsbewusstsein zugeschrieben. Es ist ein schlichter psychologischer Zirkel. Wir vertrauen, wem wir aufgrund von Ähnlichkeitsannahmen Verantwortung zuschreiben – und umgekehrt. Die V-Achse bildet den zentralen identitären Mechanismus moderner Politik ab.

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Erst auf ihrer Basis stellt sich heute die Frage nach der Gesinnung. Was will sie oder er „wirklich“, wofür steht die Person? Dass diese Frage auf Platz zwei abgerutscht ist, sagt viel über die veränderte Erwartung an Politiker. Der klassische deutsche Lagerwähler des vergangenen Jahrhunderts stellte die Gesinnung voran. Der heutige Wahlurnenokkasionalist ist jederzeit bereit, die Aufrichtigkeit von Überzeugungen psychologisierend zu hinterfragen. Ihn interessiert vor allem, woran sie im Konfliktfall zerbrechen werden. Dieses Schema ist relativ neu – und nicht unwesentlich medieninduziert: eine gut platzierte journalistische „Enthüllung“, und eine weitere politische Karriere ist geplatzt.

Die identitäre V-Achse erlebt ihren Stresstest im unwegsamen Gelände von Zweifeln, die auf einer prinzipiellen Fragilitätsvermutung beruhen: Wo beginnt bei Politikern die Geltungsbedürftigkeit – und damit die psychologische Verführbarkeit, selbst wenn wir ihrer Gesinnungsorientierung vertrauen? Hier wird der Restzweifel der V-Achse verhandelt. Das „Er/Sie ist wie ich“ wird mit den Verlockungen des Narzissmus der Macht vermessen. Die Mediendemokratie induziert ein prinzipielles Misstrauen gegen den persönlichen Geltungsbedarf öffentlicher Personen. Was nicht heißt, dass Narzissten dabei schlecht wegkämen. Wenn sie ihr Geltungsbedürfnis sozialverträglich zu gestalten wissen, sind sie – siehe Guttenberg – sogar im Vorteil. Denn gut inszenierter Narzissmus wirkt wie das Musterbild von „Konsequenz“.

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Konsequenz gilt geradezu klassisch als harte Größe einer politischen Verhaltenslehre. Nirgendwo mehr als hier scheint das psychologische Irgendwie entschiedener konterkariert. Die Konsequenz, mit der politische Ziele verfolgt werden, lag schon Max Webers viel zitierter Äußerung zugrunde, Politik sei „starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß“. Zur Konsequenz gehört im politischen Geschäft indes vor allem die Fähigkeit, sie durch ihr vermeintliches Gegenteil zu behaupten: Die Bereitschaft zum Kompromiss wird mittlerweile als ultimative demokratisch-taktische Fähigkeit gefeiert, Konsequenz und Kompromissfähigkeit bilden im Zeitalter wechselnder Mehrheiten eine polare Einheit. Wie dies in Balance gebracht und plausibel dargestellt werden kann, liegt indes bereits wieder auf genuin psychologischem Terrain. Performanz und Affektmanagement sind die einschlägigen Stichwörter. Auch das hat schon Weber wahrgenommen, wenn er als Qualitätszeichen gerade des von ihm favorisierten leidenschaftlichen Politikers eine „starke Bändigung der Seele“ hervorhebt. Es geht um das persönliche psychische Akkomodations- und Entwicklungsvermögen: das, was man heute Potenzial nennt.

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Mit Blick auf Performanz und Potenzial sind wir am existenziellen Puls eines Politikerchecks, an der Schnittstelle von sachbegründetem Handeln, subjektivem Vermögen und der Außendarstellung. Hier kommen, wie Alexander Mitscherlich es nannte, Sach- und Affektbildung, die wesentlichen intellektuellen und emotionalen Skills einer Person zusammen.

Die Zukunftsfähigkeit von Politikern lässt sich am besten danach beurteilen, wie groß ihre persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten sind: Welche inneren Potenziale verstehen sie zu mobilisieren – insbesondere in Konfliktsituationen? Wie steht es mit ihrer psychischen Stabilität, ihrer inneren Balance und ihrer Affektkultur?

Mag Performanz, die (Selbst-) Darstellungs- und Auftrittsqualität, der auffälligste Gegenwartswert einer öffentlichen Person sein, so ist das Potenzial der Zukunftswert par excellence. Es ist das, was nicht unmittelbar zutage liegt: psychologisch gesehen, das „Abgewehrte“. Ein entscheidender Teil unseres psychischen Potenzials ist das von uns als negativ Bewertete, das, was wir am liebsten aus unserem Selbstbild ausschließen wollen.

Dazu gehört insbesondere der depressive Anteil, der partout keinen Platz im gehegten Bild des patenten Problemlösers finden will, als den sich Politiker aller Couleur gern sehen. Im verleugneten depressiven Bereich indes sind die wirklichen psychischen Schätze zu heben. Potenzial hat, wer sich den Abgründen der eigenen Person, den Ängsten und nicht sozialkonformen Wünschen nähern und sie integrieren kann, statt sie nach außen zu projizieren.

Wer sich diese abgewehrten negativen Anteile der eigenen Person zu erschließen versteht, hat den Schlüssel dafür, auch das politische Feld als genuinen Möglichkeitsraum zu öffnen. Denn „Sozialbildung“, die psychische Grundlage kompetenten politischen Handelns, ist die Folge gelungener Sach- und Affektbildung. Wie Kompromissfähigkeit darauf basiert, die Stimme des anderen zuzulassen, so liegt die Möglichkeit, das eigene Potenzial zu erschließen, wesentlich darin, die innere Stimme vernehmbar zu machen, die von anderem als Glück, Erfolg und endloser Leistungsfähigkeit spricht. Die depressive Position ist nicht nur das wirksamste Gegengift zur Illusionsbildung; sie beinhaltet in der für sie typischen Angst vor Zerstörung, die essenzielle Tugend der Sorge: vorausschauende Sorge für sich wie für andere.

Die psychologisch entscheidenden Qualitäten für die persönliche Entwicklungsfähigkeit von Politikern sind Ambiguitätstoleranz und Integrationsfähigkeit gegenüber den eigenen problematischen Selbstanteilen. Beides sind unabdingbare Voraussetzungen für die Fähigkeit, „Zukunft zu gestalten“. Beides erfordert – Ludwig Wittgenstein erklärte es zur Grundbedingung allen Denkens – Mut. So gesehen ergibt sich, gewissermaßen im Nebensatz, ein Urteil über diejenigen, die es vorzogen, sich diesem Politikercheck nicht zu stellen. Kristina Schröder und Manuela Schwesig, beide Hoffnungsträgerinnen ihrer Parteien, fehlte der Mut dazu.

Wie ich die sechs PolitikerInnen bewerte, mit denen ich gesprochen habe? Eine öffentliche Beurteilung empfinde ich als unangemessen, sie würde erheblich mehr Platz für die Begründung voraussetzen, als Tageszeitungen dafür bereitstellen können. Aber natürlich habe ich mir privat ein Urteil gebildet.

■ Sie möchten wissen, wie Christian Schneider die PolitikerInnen bewertet, die er für die sonntaz besucht hat? Dann schicken Sie eine Mail an sonntaz@taz.de