: Darf man Wagner lieben?Ja
RAUSCH Richard Wagner wäre im Mai 200 Jahre alt geworden. Seine Musik ist Pathos und Ekstase. Er könnte einer der wichtigsten Komponisten überhaupt sein, wäre nicht sein Judenhass gewesen und Hitler sein glühendster Fan
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Sebastian Baumgarten, 44, Regisseur, inszenierte Wagners „Tannhäuser“
Welche moralische Instanz stellt diese Frage? Wagner ist eine ideologische Dialektikkampfmaschine gegen die Banalität und Realitätslüge des Linearen, Kontinuierlichen. Wagners Werke sind die Avantgarde für die Schaffung eigener, radikal subjektiver Religions- und Mythenwelten. Vielleicht ästhetische und verspielte Vorboten eines neuen Polytheismus und des Lebens in Stämmen. Sie sind Welten aus selbsterfundenen Zeichen, die nur subjektiv funktionieren, keinen Anschluss mehr wollen an gemeingültige Zeichensysteme zur Verständigung und Kommunikativität. Sie sind eine Zeichenwelt, die sich selbst genügt und deren radikale Variante es unmöglich machen würde, auf sie mit Vermarktungsstrategien einwirken zu wollen. Seine Arbeit ist die Behauptung des vollendeten Scheins, die Affirmation des Hohlen und Spukhaften, und genau das macht seine Notwendigkeit aus. Seine Werke sind nicht in ihrer Narration, aber in ihrem ästhetischen Ausdruck die perfekte Abbildung unserer Gegenwart.
Okka von der Damerau, 38, ist Mezzosopranistin bei den Bayreuther Festspielen
Ich liebe meinen Mann, meine Kinder – die Person Richard Wagner sicher nicht. Von seinen Werken und seiner Musik fühle ich mich aber angesprochen. Bei der Auseinandersetzung mit den Werken reizt mich die Komplexität, die mich sehr fordert, gesanglich, musikalisch, inhaltlich und auch persönlich. Bei Wagner muss man sich, wenn man vor dem Abgrund der Affirmation steht, dafür entscheiden, klar zu bleiben. Meine Persönlichkeit, mein kultureller Hintergrund und die Arbeit an den Partien macht es mir unmöglich, Wagner unkritisch wirken zu lassen. Letztlich vertraue ich mir und lasse mich trotz allem von der großartigen Musik bewegen. Unreflektiertes Wiedergeben von Noten interessiert mich eh nicht.
Angelika Niescier, 43, ist Jazz-Saxofonistin, hat polnische Wurzeln und lebt in Köln
Wagner bedeutet immer: Obacht! Er zwingt mich zu hinterfragen, warum seine Musik diese oder jene Wirkung auf mich hat, und seine persönlichen Wirren sind immer im Hintergrund: Wagner, das eloquent überzeugende Großmaul, der seine Gönner einwickelte, den besten Freunden die Frauen ausspannte, der „zeitgemäß“ den Antisemitismus pflegte und aus einer kindischen Wut heraus „die Juden“ für seine Misserfolge verantwortlich machte, wobei seine Haltung immer extremer wurde. Aber er war ein musikalischer Innovator, der nicht scheu war, seiner künstlerischen Vision bis zum Ende zu folgen und stundenlange Werke zu komponieren – ohne Rücksicht auf die Zuhörer –, und der uns dadurch zwingt, sich wirklich Zeit für seine Kunst zu nehmen.
Gisela Linnen, 35, arbeitet als Musiktherapeutin und Pianistin und studierte Musiktheorie
Natürlich darf man Wagner lieben. Allerdings muss man sich schon fragen, auf welche Art. Die Wirkungsweise von Musik liegt ja darin, dass es vor allem die Zuhörenden sind, die die musikalischen Strukturen mit persönlichen Bildern, Gefühlen und Erinnerungen aufladen. Folglich wird durch das Bild Wagners als antisemitischem Komponisten im Hören das Hervortreten NS-geprägter Assoziationen und Emotionen unterstützt. Es ist also unabdingbar, einen feinfühligen Umgang mit dieser Musik zu pflegen. Warum also Wagners Kompositionen nicht nutzen, um sich mithilfe der Musik den affektiven Verstrickungen mit der NS-Ideologie zu stellen? Ohne Konflikt ist eine Auseinandersetzung allerdings nicht zu machen – aber das passt ja auch zur Liebe!
Nein
Gottfried Wagner, 66, Urenkel von Richard Wagner, ist Musikhistoriker. Er lebt in Italien
Was hat Liebe als empathisches Lebensgefühl mit Lebens- und Frauenverachtung, Xenophobie, Rassismus und Selbstvergötterung zu tun? Mit diesem destruktiven Potenzial schuf der Tonmagier Richard Wagner seine Welt-Selbst-Erlösungs-Soap –„Opera Industries“. Verdi, der andere große Operntitan mit Geburtsjahr 1813, beschloss sein Leben mit Falstaff, Wagner mit Parsifal im eigenen Kulttempel. Hitler und Falstaff? Undenkbar! Daher: Viva Verdi.
Pierre-René Serna, 54, hat das Buch „L’Anti-Wagner sans peine“ geschrieben
Wie kann man Wagner mögen? Seine Ideologie, seine Ästhetik, seine Musik, der Antisemitismus, der Pangermanismus, der Fanatismus, der aufgeblasene Stil, die Behäbigkeit? Schluss damit! Seine Musik ist ein Durcheinander ohne Prägnanz. Sie verzaubert die Zuhörer, aber diese Faszination verhindert, dass sie über seine Musik nachdenken. Erstaunlicherweise lieben viele Franzosen Wagner, den „Frankophoben“. Aber eigentlich verstünden sie seine Werke gar nicht, sagen Verantwortliche der Bayreuther Festspiele. Im Vergleich zu den sektenartigen Wagnerianern ist paradoxerweise das Bayreuther Team viel aufgeschlossener. Im Allgemeinen jedoch sind die Deutschen Wagner gegenüber eher abgeneigt. Für mich ist die Tatsache, Wagner nicht zu mögen, auch eine Form, meine Zuneigung für Deutschland zu zeigen, einem heutzutage sehr toleranten und aufgeschlossenen Land.
Rolf Schneider, 80, ist Schriftsteller und Autor von „Wagner für Eilige“
Seine Verdienste sind unbestritten: Die Musikgeschichte hat er maßgeblich beeinflusst, seine Opern gehören, neben denen von Mozart, Puccini und Verdi, zu den meistgespielten im Musiktheaterbetrieb. Unbestritten sind seine Defizite: der maßlose Egoismus, der Größenwahn, der widerwärtige Judenhass, der sich über die Witwe Cosima und die Bayreuther Blätter bis hin zu Adolf Hitler multiplizierte. Politisch war er ein schmieriger Opportunist, der zwischen Bakunins Anarchismus und Bismarcks Deutschnationalismus alle möglichen Denk- und Verhaltensmuster des 19. Jahrhunderts ausprobierte. Dies alles ist mit seiner ästhetischen Wirksamkeit verzahnt, eins transportiert das andere. Seine Musik hat, durch die Orchestrierung, durch die Enharmonik, viel von einem Opiat. Wagner ist ein Verführer. Er will, dass man ihm erliegt, und viele erliegen ihm. Besser wäre, man würde sich wehren.
Carsten Heinisch, 51, Lektor aus Kaiserslautern, kommentierte via taz.de
Nein, natürlich darf man Richard Wagner nicht lieben. Ganz abgesehen von dem grässlichen Antisemitismus und den kruden politischen Ansichten war er ein egomaner Wicht, der skrupellos andere Leute benutzte, einem Freund die Frau ausspannte, völlig überdrehte Ansprüche stellte und so weiter. Wagner als Dichter ist gewöhnungsbedürftig. Wenn man sich auf seine Stabreimerei und die ungewöhnliche Wortwahl einlässt, die die Texte oft unverständlich macht, findet man durchaus intelligente Sachen, aber oft sitze ich auch da und denke: Warum kriegt der Mann keinen geraden Satz heraus? Und die Musik? Vieles ist einfach auf Überwältigung angelegt und erdrückt einfach durch „Masse“. Seine Leitmotivtechnik ist genial, setzt aber eine Auseinandersetzung mit den Stücken voraus. Sei’s drum: In diesem Monat werde ich mir den zyklischen „Ring“ anschauen – vier Tage, vier Opern, sechzehn Stunden Musik – und werde es, wahrscheinlich, genießen. Aber dann ist mein Bedarf wohl auch für die nächsten Jahre gedeckt.