: Die Bedingungen weiblichen Schreibens
LESEERFAHRUNGEN Ein Band porträtiert 99 Autorinnen – und liefert Denkanregungen für die Gegenwartsliteratur
VON WIEBKE POROMBKA
Einen Satz liest man in letzter Zeit häufiger in Rezensionen oder hört ihn auf Jurydiskussionen – und langsam, aber sicher reagiert man allergisch auf ihn. Das ist doch gut gemacht, heißt er. Was sich in diesem Satz ausdrückt, ist eine Form der heruntergekochten Professionalisierung. Das Lesen und das Sprechen über Texte – erst einmal aber natürlich ihr Schreiben – hat sich auf erschreckend smarte Weise in die Regeln eines rationalisierten Literaturbetriebs eingefügt. Die Frage nach der inneren und äußeren Notwendigkeit indes, die man doch an jedes Buch herantragen können müsste, gilt innerhalb dieser Mechanismen nicht nur als pathetisch und aus der Zeit gefallen, ihr scheint geradezu etwas Unlauteres anzuhaften. Bücher dürfen heutzutage ziemlich viel, eins aber dürfen sie immer weniger: irritieren oder verunsichern. Weder den Leser noch den Schreibenden.
Natürlich ist es leicht, den Blick vom Heute aus auf mehrere Jahrhunderte Literaturgeschichte zu werfen, um dann den ernüchternden Zustand der Gegenwart zu konstatieren. Nichtsdestotrotz kommt man kaum umhin, den Band „Leidenschaften“, in dem die Literaturkritikerinnen Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula März und Elke Schmitter 99 Autorinnen aus den verschiedensten Ländern und Zeiten porträtieren und deren Werk vorstellen, immer auch auf die Gegenwart hin zu lesen. Zwar ist im Nachwort auch vom „guten Buch“ die Rede. Tatsächlich aber handelt es sich bei diesem Band nicht um eine Kanonisierung weiblichen Schreibhandwerks oder um weibliche Literaturgeschichtsschreibung, sondern vielmehr um eine Vermessung und Auslotung der Bedingungen und Möglichkeiten von Literatur, und das heißt eben auch: ihrer inneren und äußeren Notwendigkeiten.
Das klingt pathetisch. Und das ist es auch. Nicht nur die Leidenschaften der 99 Autorinnen, von Sappho über Hildegard von Bingen und George Eliot bis hin zu Elfriede Jelinek, sind mit dem (zugegeben groschenheftartigen) Titel gemeint, auch die literarischen Leidenschaften von Auffermann, Kübler, März und Schmitter selbst. Ihre ganz persönliche Leseerfahrung schimmert immer wieder hindurch, wenn sie erläutern, was jede einzelne der Porträtierten und ihr Schreiben ausmacht.
Die emphatische Herangehensweise der Macherinnen, die vor allem immer wieder die Frage nach Schreibanlässen und -antrieben umkreist, lässt die Porträts mitunter selbst geradezu poetisch werden. Sie führt allerdings auch dazu, dass die Fälle, in denen sich kritische Töne vernehmen lassen, an einer Hand abzuzählen sind.
Hin und wieder, etwa bei Christa Wolf oder Marie Luise Kaschnitz, vermisst man sowohl eine differenziertere Diskussion ihrer politischen Verflechtungen als auch ein strengeres Urteil über die ästhetischen Qualitäten der Texte. Deutlich wird das Manko des zu einhellig Positiven auch bei Margaret Atwood. Fast schon klappentextartig ist hier manche Passage geraten: „Sie erfindet Romanstoffe und integriert ihre gesellschaftspolitisch relevanten Botschaften mit großer Selbstverständlichkeit.“
Shakespeares Schwester
An anderer Stelle wiederum, bei Jane Austen oder Simone de Beauvoir, wird auf aufschlussreiche Weise gezeigt, warum Bücher, die in ihren moralischen und weltanschaulichen Prinzipien nicht mehr in unsere Zeit passen, immer noch lesenswert sind, wie im Falle von Austen. Oder aber, warum mancher Text heute tatsächlich nicht viel mehr ist als unzeitgemäß, ohne ihm deshalb seine zeitgenössische Berechtigung abzusprechen.
Natürlich kommt eine solche Versammlung von Autorinnen schwerlich aus ohne die berühmte Frage von Virginia Woolf, was wohl, hätte Shakespeare eine Schwester mit ähnlichen Talenten gehabt, aus dieser geworden wäre. Und natürlich erzählt ein Band mit 99 Porträts von Frauen, die in so unterschiedlichen politischen, nationalen, kulturellen und zeitgeschichtlichen Konstellationen geschrieben haben (bzw. ihr Schreiben gegen diese Konstellationen behaupten mussten), immer auch eine Emanzipationsgeschichte, eine biografische oder historische. Sie wird aber, und das ist das Gute, hier nie als Verlustgeschichte erzählt, sondern als Faszinationsgeschichte.
Wäre man böswillig, könnte man sagen, dass es sogar erst die widrigen Umstände, die äußeren und inneren Verwerfungen sind, die einzelnen Porträts ihre Strahlkraft verleihen. Viel eher ist es aber die Frage der äußeren und inneren Notwendigkeiten von Büchern, die Frage danach, was oder wie sie etwas erzählen, die vor diesen Hintergründen anschaulich werden. Nahezu symbolisch liest sich die Verflechtung von Leben und Schreiben bei Unica Zürn, die, gefangen zwischen traumatischen familiären Erfahrungen und Aufenthalten in der Psychiatrie, die Zwangsjacke des Anagramms wählte, um sich aus den eigenen Beklemmungen zu befreien. Am Ende konnten die Texte sie nicht retten: Im Oktober 1970 sprang die 1916 geborene Zürn aus dem Fenster der Pariser Wohnung, die sie mit dem Surrealisten Hans Bellmer teilte.
Es ist dieses „Dahinter“ von Texten, wie es im Nachwort heißt, das in diesem Band freigelegt wird. Gerade bei Autorinnen früherer Jahrhunderte ist dieses Dahinter zumeist ein kulturgeschichtliches. Bei Anna Achmatowa, auch bei Toni Morrison, die 1993 als erste Afroamerikanerin mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, oder bei Nadine Gordimer, die sich in ihren Büchern mit der Apartheid im Südafrika auseinandersetzt, sind es die politischen Kontexte.
Zugleich geht es aber immer auch um eine Art „Davor“, um die populärkulturellen Strategien und Wirkungen von Texten. Nicht nur ein intellektuelles Pantheon ist es also, das Auffermann, Kübler, März und Schmitter errichten. Platz haben genauso Autorinnen wie Isabel Allende, Hedwig Courths-Mahler oder Joanne K. Rowling, deren Bücher Massenauflagen erreichten. Allende, so der Tenor, weil sie in ihren Büchern größtmögliche Intimität zu inszenieren versteht. Courths-Mahler, indem sie einerseits ein quasi industrielles Schreiben perfektionierte, Geschichte um Geschichte aus Fertigbauteilen in Serie herstellte, andererseits ihre Bücher „auf wundersame Weise unberührt von der Moderne“ hielt.
Sprache der Versessenheit
Genauso provokant wie interessant ist die Lesart von Rowling, deren unvergleichlicher Erfolg stets als märchenhafte Geschichte des Aufstiegs der alleinerziehenden Sozialhilfeempfängerin erzählt wird. Ursula März hingegen spielt den Gedanken durch, ob Rowling sich nicht erst in die prekäre biografische Lage habe bringen müssen, um sich durch das Erfinden des Harry-Potter-Universums daraus herausarbeiten zu können.
Natürlich ist die in diesem Fall attestierte Kopplung von Lebensumständen und Schreibanlässen kein Naturgesetz. Genauso wie es kein Patentrezept ist, das man aus diesem Band für die Gegenwart herausdestillieren kann. Dafür sind allein die Autorinnen viel zu unterschiedlich: Gesamtkunstwerke oder gekonnte Selbstdarstellerinnen wie Marguerite Duras oder Colette stehen neben so zurückgezogenen, dem öffentlichen Leben abgewandten Autorinnen wie Nelly Sachs oder Wisława Szymborska. Was man aber für die Gegenwart gewinnen kann, ist die Erinnerung daran, dass einem Buch eine Art der bedingten Bedingungslosigkeit, eine Reibung von Welt und Erzähltem, innewohnen muss, damit es die Zeit überdauert. Damit keine Missverständnisse entstehen: Nicht die einfache Gleichung, je größer das Leid, desto besser der Text, soll hier aufgemacht werden. Auch nicht die sozialromantische These, dass in Diktaturen die besseren Bücher geschrieben werden, wie man sie unlängst wieder in der Zeit lesen konnte.
Das greift, in dem Versuch etwas schwer Benennbares benennbar zu machen, zu kurz. Lust kann genauso wie Leid Substantielles produzieren. Auch Leidenschaft oder Versessenheit können eine Sprache finden, die den eingefahrenen Blick auf die Welt aufbricht und Verborgenes freilegt oder Neues entstehen lässt. Indikator dafür, ob ein Text nur ein gekonntes Arrangement von Wörtern ist, das sich reibungslos in das Drumherum einfügt, im besten Falle einigermaßen unterhaltsam ist, oder aber ein Stück Literatur, ist einzig seine Energie. Eine Energie, die durch Reibung entsteht und die sich auf den Leser überträgt, als mitunter irritierende und anstrengende, Reflexions- und Imaginationsstimulation.
Nach diesen Energien zu suchen muss wieder viel mehr Aufgabe der aktuellen Literaturkritik werden. Wenn man diese Frage nach der Existenzberechtigung an ein Buch wieder viel expliziter stellt, dann wird es nicht wenige geben, die schon heute und nicht erst in der historischen Rückschau durchs Raster fallen. Und das ist gut so. Denn mehr oder weniger gut, zumindest anständig gemacht, sind sie doch fast alle im sanft vor sich hin schnurrenden Literaturbetrieb.
■ Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter: „Leidenschaften. 99 Autorinnen der Weltliteratur“. C. Bertelsmann, München 2009, 640 Seiten, 24,95 Euro