: Kampf um Lebensmittel
NACH DEM BEBEN IN HAITI Wasser für die Opfer des Erdbebens ist da, aber die Menschen haben kein Geld, um Essen zu kaufen. Bei der Verteilung von Hilfsgütern kommt es zu Tumulten
■ Zehn Tage nach dem Erdbeben haben die Vereinten Nationen eine positive Spendenbilanz gezogen. Für die Soforthilfe hätten Regierungen und private Geber bisher 207 Millionen US-Dollar gezahlt, teilten UN-Sprecher am Freitag in Genf mit. Das ist etwa ein Drittel der erbetenen Summe in Höhe von 575 Millionen Dollar.
■ Die haitianische Regierung will bis zu 400.000 Menschen aus der Katastrophenzone bringen. Als Begründung wird die Angst vor dem Ausbruch von Seuchen angeführt.
■ Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen verteilte nach eigenen Angaben bisher vier Millionen Mahlzeiten an eine Million Haitianer.
■ Bei dem Erdbeben vom 12. Januar kamen nach Schätzung der haitianischen Regierung 100.000 bis 200.000 Menschen ums Leben. Etwa 75.000 Tote wurden beerdigt. Rund 3,5 Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen, 1,5 Millionen wurden obdachlos.
■ Rund eine halbe Million Menschen harrt derzeit in 447 improvisierten Lagern in Port-au-Prince aus, wie die Internationale Organisation für Migration mitteilte. Die hygienischen Bedingungen seien größtenteils unhaltbar.
■ Der notdürftig reparierte Hafen von Haiti wurde am Donnerstag wieder in Betrieb genommen. Ein erster Frachter mit 123 Tonnen Hilfsgütern konnte anlegen. (epd)
AUS PORT-AU-PRINCE HANS-ULRICH DILLMANN
Versorgungsprobleme hat Port-au-Prince nicht. Auf den Straßen rund um das Stadtzentrum, die nicht so stark von den Erdbebenwellen betroffen wurden, werden Obst und Gemüse angeboten. Fliegende Händler bieten auf der Rue Delmas 2 wieder Kohle und Körperpflegemittel an, als ob nicht gewesen wäre.
In Pétionville knapp zehn Kilometer oberhalb der haitianischen Hauptstadt ist Marktstimmung wie vor zehn Tagen als in Haiti die Erde bebte. Marchants, Marktfrauen, preisen lauthals Porreestangen und Karotten an. Junge Männer drängeln sich wie eh und je „dlo, dlo“, „Wasser, Wasser“, schreiend, durch die quirlige Rue Geffrard. Der Preis hat sich allerdings von früher einem Gourde (etwa 2 Cent) in nur wenigen Tagen vervierfacht. „Es geht so“, sagt eine Händlerin, die Spaghettis, Tomatenmark und Speiseöl verkauft, „aber viele haben kein Geld.“
Wer die Route de Delmas herunterfährt, lernt die andere Realität Haitis und seiner Einwohner kennen. An den rechts und links abzweigenden Hofeinfahrten und Freiflächen hängen vielfach Plakate. In bis vier Sprachen bitten darin die Menschen um Hilfe, um Wasser und Lebensmittel.
Solche Transparente sah man vor einer Woche nur vereinzelt, jetzt fallen sie inzwischen ständig ins Auge. „Wir haben Hunger!“ und „Wir brauchen Hilfe!“
Das Rote Kreuz spricht von drei Millionen Menschen, die direkt von dem Erdbeben betroffen sind. Sie haben oft nur das nackte Leben retten können. Die Menschen haben kein Geld mehr, mit dem sie etwas zu essen kaufen könnten. Die Lebensmittelpreise sind zudem gestiegen.
Ein weiteres Problem ist auch, dass die Banken noch geschlossen sind und dass viele Filialen beim Beben zerstört wurden. Das Bankgeschäft ist fast vollständig zum Stillstand gekommen, Bankautomaten waren auch vor der Katastrophe eine Rarität im Land. Einzelne Geldinstitute öffnen mittlerweile stundenweise, und sofort bildeten sich wie vor der Scotiabank in Pétionville lange Schlangen von Menschen, die sich mit Bargeld versorgen wollen. Auch wohlsituierte Haitianer sind ohne Geld, weil sie nicht an ihre Konten kommen. Dazu kommt, dass etwa beim Einsturz der Zentrale der Citibank sämtliche Kontounterlagen zerstört wurden.
Die Versorgung der Obdachlosencamps mit Wasser funktioniert inzwischen, sogar ohne Polizeischutz und Ordnungshüter. Die Menschen stellen sich wie in der katholischen Schule in Delmas 33 ordentlich in Reihe an, um pro Familie 20 Liter sauberes Wasser zu bekommen. „Aber Wasser ist im Moment nicht so wertvoll wie Nahrungsmittel“, sagt Simone Pott von der Deutschen Welthungerhilfe.
Was das heißt, bekamen die Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation am Donnerstag zu spüren, als sie von drei Lastkraftwagen aus Lebensmittel für rund 6.000 Menschen für die kommenden zwei Wochen auf dem Gelände der katholischen Schule ausgaben. Es war die erste größere Lebensmittelverteilaktion in der zerstörten Stadt.
Keine 15 Minuten hielten die drei Reihen, in denen sich Frauen und Männer drängten, um jeweils 22,5 Kilogramm Reis sowie einen Eimer mit 2 Litern Öl, 4,5 Kilogramm Bohnen und Salz für ihre Familien zu erhalten.
Das Chaos brach über die Mitarbeiter der Welthungerhilfe herein. Die sechs Blauhelmsoldaten kümmerten sich reichlich wenig um eine ordnungsgemäße Verteilung, und die vier haitianischen Polizisten verfolgten das Geschehen als Zaungäste.
„Wir haben keine Chance“, schimpfte etwa Wislande, eine junge Frau. Ein paar Männer hatten ihr den Sack Reis von der Schulter und den Eimer mit den restlichen Lebensmitteln entrissen. Ihr blieb nur eine zerrissene Plastiktüte mit einer Handvoll Bohnen.
Als dann auch mehrere Gruppen junger Männer auftauchten, waren die Sicherheitskräfte zu schwach, für Ordnung zu sorgen. Zum Teil mit Gewalt rissen die Männer den Verteilern die Waren aus der Hand, stiegen auf die Fahrzeugdächer, um schneller an die Nahrungsmittel zu kommen. Frauen und Kinder hatten keine Chance mehr. „Es ist eine Schande“, schimpfte eine Frau. Andere schämten sich für das Verhalten ihrer Landsleute.
Dabei hatte die Welthungerhilfe extra dieses Lager ausgesucht, um Auseinandersetzungen zu verhindern. Ein dort funktionierendes Komitee, das sich um das Zusammenleben kümmert, sollte die Lebensmittelverteilung regeln. „Wir hatten die Wahl, unter nicht optimalen Bedingungen mit der Verteilung zu beginnen oder es sein zu lassen“, erklärt Michael Kühn, Regionalkoordinator der Welthungerhilfe in Haiti. Aufgrund der Ernährungssituation habe sich die Welthungerhilfe entschieden, trotz der Sicherheitsbedenken die Verteilaktion zu beginnen.
„Bedürftig waren alle, auch jene, die sich genommen haben, was eigentlich für andere bestimmt war“, sagt auch Simone Pott, die Sprecherin der Organisation.