Schuld ohne Sühne

Ein Lehrstück, eine Upper-Class-Satire, eine Klischee-Sammlung, eine Literaturverarbeitung, ein Märchen. Woody Allens neuer Film „Match Point“ lädt zur Identifikation mit dem Bösen ein

VON DIETRICH KUHLBRODT

Tennis in Slowmotion. Der Ball steht auf der Kante des Netzes. Ein Standbild. Dann bewegt er sich wieder. Auf welche Seite kippt er? Glück oder Pech? Glück! Chris (Jonathan Rhys Meyers), der junge, hübsche Tennislehrer aus einer der unteren Schichten, macht sich in der englischen High Society beliebt. Von der young lady bis zum Banker-Opa fährt jeder auf ihn ab. Mir ging’s im Kino genauso. Dem musste man einfach alles durchgehen lassen, auch das, was die Oberschichtfiguren gar nicht mitgekriegt haben, sehr wohl aber wir Zuschauer.

Ein moralfreies Lehrstück über das Glück, das einem in den Schoß fällt, ob verdient oder nicht, egal. Mehr noch: Woody Allen hat Glück gehabt, zum ersten Mal Manhattan zu verlassen und einen Film im Ausland zu drehen: in England. Die larmoyante Mia Farrow von einst verblasst mitsamt dem Durchprobieren neurotischer Katastrophen. Er ist jetzt siebzig. „Match Point“ steht in seinem Werk neu, jung und schön da. Herzlichen Glückwunsch, Mr Allen.

Alles very British. Die Schauspieler, die pro-non-cier-te Sprache, leicht durchs rechte Nasenloch; die genüsslich zelebrierten Umgangsrituale; das neue Oberschicht-Loft mit Blick auf die Tower Bridge, und selbstverständlich paradieren am anderen Ufer die mit den schwarzen Pelzmützen. Das war die Stelle, an der ich im Kino schrie: „Purer Postkartenkitsch!“, ähem, gedacht habe ich es aber, abgefüllt, wie ich war mit Champagner-Cocktails, der Familien-Loge in der Oper, Verdi den ganzen Film hindurch, aber bitte in der Loge das Handy anlassen, wir müssen noch zum Taubenschießen und dann zum Hormonspezialisten.

Mein Gott, ist das nun eine Upper-Class-Satire oder eine Klischee-Sammlung? Nein, dazu war es zu gut gemacht, im Match-Tempo des Kommen-wir-jetzt-zügig-zur-Sache, und dann hatte ich sie gelernt, die Upper-Class-Codes, die dir Tür und Tor öffnen. Ich sagte es schon: ein Lehrstück. Aufsteiger Chris also freundet sich mit dem gewissenfreien Oberschicht-Sohn Tom an. Ein Tennis-Coach wird grad gebraucht (Glück!). Seine Schwester will geehelicht werden (Glück!). Der Vater wird Aufsteiger-Fan (Glück!). Chris legt sich außerdem eine Geliebte zu (Scarlett Johansson), die eigentlich die Verlobte seines Schwagers Tom ist. (Kommen Sie mit? Wir sind unversehens in einem Familienroman des vorvorigen Jahrhunderts.) Die Johansson ist die einzige Nichtengländerin unter den Schauspielern, immerhin emigriert sie grade laut Drehbuch aus den USA. Also, was nun? Bevor die Buhlschaft ruchbar wird und die übliche Beziehungstragödie anbrechen kann, erzählt Tom so nebenbei, dass er die Verlobung gelöst und was Besseres gefunden hat (Glück!).

Ich bin jetzt in der Verlegenheit, den Plot nicht weitererzählen zu können, weil das Glück nicht kommt, wenn man weiß, was passiert. Nur so viel: Wenn der Tom Ripley in Patricia Highsmith’ Romanen den Aufstieg schaffen will, kann von Moral nicht die Rede sein. Der Highsmith-Tom wird nicht vom Gewissen gebissen. Doch der Allen-Chris tut sich schwer, das ganz Böse zu tun, das zu benennen ich mich weigere. Er quält sich, doch er tut es. Und was ist es, was ihm in den Schoß fällt? – Eben. Wir kommen durch dieses glückliche Verfahren außerdem in die dritte Dimension von „Match Point“: die E-Literatur.

Am Anfang des Films eine Großaufnahme: Tennis-Coach Chris liest. Er liest ein Buch. Er liest Dostojewski: „Schuld und Sühne“, während um ihn herum die feine Gesellschaft blasiert-schnodderig ein wenig Zynismus goutiert. In der wunderbar geglückten deutschen Synchronisation (Jürgen Neu) kommt das eins zu eins rüber. Zurück zur Lesung. Sie wird motivisch verflochten und schließlich zum Thema. Woody Allen antwortet auf die großen E-Unglücke des 19. Jahrhunderts. „Match Point“ proudly presents: Schuld ohne Sühne. Auch ist es weder dramaturgische Notwendigkeit, noch wird es verhängt, das Hast-du-zur-Nacht-gebetet-Desdemona. Othello will würgen, aber Moment mal, nur kurz das Handy: Gehen wir zu dir oder zu mir?

Weil nicht das Verhängnis die Hauptrolle hat oder das angeblich unerbittliche Schicksal oder das Massenvergnügen, am Schluss jemanden gehenkt oder doch bestraft zu sehen – weil all das bei Woody Allen nicht ist, ist „Match Point“ ein Menschen-, äh, Schauspieler-Film, in dem wir mit den Personen der Handlung warm werden – und ihnen auf den Mund sehen. Worte, Sprache, Gesten wie bei Tschechow in der „Möwe“. Großartiges Theater und emotionale Nähe, gar eine bedenkenlose Verführung des Zuschauers – gut, also, ich war es, ungewarnt, der sich unversehens mit dem talentierten Aufsteiger Chris identifizierte und infolgedessen in Teufels Küche kam.

Woody Allen hat es raffiniert und schön und vom Glück begünstigt hingekriegt, dass ich mich in Fragen von Moral, Sitte und Anstand auf der völlig falschen Seite wiederfand, und das auch noch mit Überzeugung. Alle Achtung, Woody Allen, du hast es geschafft, du hast mich geschafft. Ich habe mit dem Bösen mitgefiebert, und weil das immer wieder überraschend und dauerhaft spannend war, rede ich hier herum, statt Einzelheiten zu konkretisieren.

Ironische Zweifel am Match-Ende. Geht es wirklich so aus, wenn das Glück gekommen ist? Dank Hormonbehandlung: ein Baby! Das nächste Kind: ein Junge! In der Firma: ganz oben! Großeltern: stolz! Eltern: selig! „Match Point“ ist an vierter Stelle ein Märchen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

„Match Point“. GB 2005. Regie: Woody Allen. Mit Scarlett Johansson, Jonathan Rhys-Meyers, Emily Mortimer