BERLIN–PRAG : Ein Zahn auf Reisen
Eigentlich hätte es nicht besser laufen können. Als B. ein Teil des lange schmerzenden Zahnes einfach aus dem Mund gefallen war, hatte er endlich Ruhe. Zumindest versicherte er das und auch der krause Zug um die Augenbrauen war verschwunden. Jetzt konnte ich ihm besten Gewissens meine neue Krone vorführen, die ich ihm, da er in Deutschland nicht krankenversichert ist, lange vorenthalten hatte.
Unglück verbindet. Erleichtert, den Pflichtteil einer guten Freundschaft erfüllt zu haben, konnten wir uns wieder dem Üblichen widmen. Dann ist B. plötzlich verschwunden. Jedes Jahr um diese Zeit fahre er nach Prag, teilt er per SMS mit, da das Hotelzimmer dann nur ein Viertel des Saisonpreises koste. Die Reise sei geschäftlich. Ich runzle die Stirn, erstreckt sich B.s Bewegungsradius sonst doch kaum über Neukölln hinaus. Zudem wollte er, endlich Besitzer einer Aufenthaltsgenehmigung, Deutschland nicht mehr verlassen. Meine Stirn hat sich noch nicht geglättet, als mein Handy piept: „I went to a dentist in prague. And he took my tooth out!?!“ Stunden darauf erreicht mich eine verspätete E-Mail aus dem Wartezimmer der Uniklinik Prag, Sektion Zahnmedizin. Sie wurde vor dem Unglück verfasst. In einen fröhlichen Urlaubsbericht über fremde Sitten und Getränke versteckt, betont B., der Zahnarztbesuch sei keineswegs geheimer Anlass seiner Reise gewesen.
Zurück in Berlin ist er nicht nur um einige Packungen Schmerztabletten und Sedativa reicher geworden, sondern ehrlich zerknirscht, hatte ihn seine Mutter, eine pensionierte Kinderzahnärztin, doch für den Erhalt dieses Zahnes durch die Hölle geschickt.
Abergläubisch behält B. das tote Ding noch in der Tasche, selbst als die Schmerzen bereits abgeklungen sind. Und seine Mutter verschiebt, als ahnte sie das Geheimnis ihres Sohnes, ihren Berlinbesuch nun schon seit Wochen. SONJA VOGEL