: Zwischen Himmel und Hölle
In Thailand haben noch an die tausend Leichen keine Namen. Beate Rindfleisch betreut die Angehörigen und die Helfer
VON SUSANNE AMANN
Kein Mensch kann alles aushalten. Selbst wenn er dafür ausgebildet ist und einiges gewöhnt ist. Selbst wenn er extra geübt hat. Im Hotelzimmer am Tag vorher hat sie sich die Geschichte mehrmals laut vorgelesen, hat versucht, nicht ins Stocken zu kommen. Es hat nicht geklappt: Sie hat mehrmals innehalten müssen, hat mit den Tränen gekämpft während der Trauerfeier dort an der weißen Mauer in Thailand, die an die Opfer des Tsunamis erinnert.
Es war einer der wenigen Momente, in denen der Seelsorgerin Beate Rindfleisch die professionelle Distanz abhanden gekommen ist. In denen sie der Schrecken und die Trauer eingeholt und überwältigt haben, mit denen sie jeden Tag konfrontiert ist. In denen sie sich nicht abspalten konnte von der Trauer der Eltern, die gerade ihre 12-jährige Tochter beerdigen und sie gebeten hatten, einen Abschiedsbrief und eine selbst verfasste Geschichte vorzulesen.
Beate Rindfleisch ist Seelsorgerin im Auftrag von Caritas International. Sie betreut seit fast einem Jahr in Thailand die Angehörigen von Tsunami-Opfern und die Beamten des Bundeskriminalamts – die Identifizierungskommission – kurz IDKO genannt, eine Gruppe aus BKA-Beamten, Rechtsmedizinern, Zahnärzten und Obduktionsassistenten, die im Auftrag der Bundesregierung die Toten untersuchen, nummerieren, katalogisieren und identifizieren. Alles, um den Opfern ihren Namen und damit ihre Identität zurückzugeben. Und um den Angehörigen Gewissheit zu geben, dass der Partner, die Kinder, Eltern oder Großeltern tatsächlich nicht mehr zurückkommen werden. „Das hilft beim Trauern“, sagt Beate Rindfleisch.
Sie war von Anfang an dabei. Seit dem 28. Dezember 2004, zwei Tage nach dem Seebeben, war sie in Thailand. Sie hat Verletzte begleitet, Überlebende versorgt und die unter Schock stehenden Angehörigen betreut. Sie war dabei, als eine Schwerverletzte noch auf dem Rollfeld gestorben ist, kurz vor dem Flug in ein deutsches Krankenhaus. Sie hat einen Mann begleitet, der seine Exfrau, die gemeinsamen Kinder und die neue Partnerin verloren hat.
Und sie war in Wat Chai, einer ehemaligen Tempelanlage nördlich von Phuket, der Touristenhochburg im Süden Thailands. „Tempel des Grauens“ wurde der Ort von Einheimischen genannt. Hier lagen zeitweise mehrere hundert Leichen, bei strahlend blauem Himmel und bei über 35 Grad. Hier haben die Beamten der IDKO gemeinsam mit Kollegen aus anderen Ländern sofort angefangen, die Leichen zu sortieren, zu untersuchen – die ersten Schritte für eine spätere Identifizierung. Ohne Seziertische, ohne abgetrennte Räume, sondern eine Leiche neben der anderen, manchmal musste man sie stapeln.
„Wissen Sie, wie Leichen riechen?“, fragt Rindfleisch und guckt dabei den streunenden Hunden hinterher, die sich heute um den sauberen, kleinen Vorplatz des Tempels tummeln. „Es ist ein stechender, ein penetrant süßlicher Geruch. Wenn Sie das einmal gerochen haben, vergessen Sie es nie wieder.“ Der Geruch lag für Wochen über dem Tempel, auch als die Kühlcontainer längst aufgestellt waren. Die stehen inzwischen nicht mehr, ein kleiner, frisch renovierter Tempel wird nur noch für die Einäscherungen der Toten benutzt.
Rund sechzig bis achtzig deutsche BKA-Beamte, Rechtsmediziner, Zahnärzte und Obduktionsassistenten waren hier in den ersten Wochen und Monaten fast rund um die Uhr im Einsatz. Von jedem Toten wurden Fingerabdrücke und DNA-Proben genommen, Röntgenbilder gemacht, der Zahnstatus dokumentiert und äußere oder innere Merkmale wie Narben, Herzschrittmacher oder künstliche Hüftgelenke festgestellt. Das, was die Experten den „PM-Status“ nennen: „post mortem“, nach dem Tod. Diese Daten werden mit dem AM-Status verglichen: Daten und Unterlagen von Krankenkassen und Zahnärzten, DNA-Proben aus den Wohnungen, von einzelnen Haaren oder Kleidungsstücken. Daten aus dem Leben vor dem Tod – ante mortem. Ein Puzzle, das am Ende den Menschen und seine Identität ergibt.
Der lange Einsatz war nicht geplant. Als Teil des Kriseninterventionsteams der Stadt Hannover kam Beate Rindfleisch nach Thailand. Doch aus der geplanten kurzfristigen Hilfe wurde ein eigenes Projekt – Seelsorge für Betroffene und Helfer zugleich. Sechsmal war die blonde, fröhliche Frau seitdem in Thailand, immer für mehrere Wochen. Dieses Mal bleibt sie bis kurz nach dem Jahrestag, bis Anfang Januar.
„Die Leichen hier haben keinerlei Ähnlichkeit mehr mit den Menschen, die sie mal waren. Dafür sind sie zu sehr verwest, das Wasser und die Hitze haben ganze Arbeit geleistet“, erzählt Rindfleisch, während sie über das Tempelgelände schlendert. Und dass es schwierig sei, aus solchen Körpern Knochenteile herauszusägen, Fingerabdrücke zu nehmen oder Röntgenbilder zu machen. Dafür braucht es ein hohes Maß an Distanz, an Abstrahierungsvermögen. Das funktioniert nur, solange nicht plötzlich die Angehörigen daneben stehen, die ihre Toten suchen. Dann nämlich verlieren auch die BKA-Beamten die Distanz, die Toten werden lebendig, kriegen ein Gesicht.
Genau das muss Beate Rindfleisch verhindern, sie ist der Puffer zwischen denen, die ihre Liebsten suchen, und denen, die sie finden sollen. „Es gibt so viele Fragen von Angehörigen: Warum das alles so lange dauert, ob man sich auf das Ergebnis der Identifizierung tatsächlich verlassen kann, ob man nicht doch noch einen Blick auf den Toten werfen könne, um sicher zu sein.“ Sie ist das Mädchen für alles, immer im Einsatz, überall unterwegs. „Ich war vorher nie in Thailand, aber jetzt kenne ich die schönsten Hotels und Ferienresorts dieser Gegend.“ Sie hat dort die Angehörigen besucht, die auf Ergebnisse warten oder für die Einäscherung angereist sind. „Ich habe immer einen Badeanzug mit und lege mich, wenn ich Zeit zwischendrin habe, einfach an den Pool“, sagt Rindfleisch – stutzt kurz und lacht. „Es gibt wunderschöne Pools hier.“
Vor allem aber sitzt sie morgens und abends mit den IDKO-Leuten beim Essen zusammen, die Arbeitszeiten sind ungewöhnlich, und mal wird es lang. „Mancher braucht eben erst drei Bier, bevor er erzählt, wie es ihm geht.“ Denn jeder hier hat die Momente, in denen nichts mehr geht, in denen die Distanz ganz schnell zusammenbricht. Und es sind oft nur kleine Begebenheiten, die wichtig werden: Einer erzählt am Abend, wie er Schwierigkeiten hatte, einen bestimmten Leichensack aus dem Kühlcontainer zu ziehen. Und ihm nichts anderes übrig blieb, als auf eine andere Leiche zu steigen. „Der sagte zu mir: Ich habe genau gespürt, dass ich jetzt auf dem Brustkorb stehe, dann auf dem Gesicht. Das hat ihn völlig fertig gemacht – mehr als alles andere davor.“ Bemerkungen von Kollegen, wenn sie sich morgens vom Hotel aus auf den Weg zur Arbeit machen, lassen ahnen, wie tief sich der Alltag in die Seele gräbt. „ ‚Wir kommen aus dem Himmel und fahren jetzt in die Hölle‘, sagte einer –auch Sarkasmus schützt“, sagt Rindfleisch.
Dazu kommen Organisationsfragen, Spannungen im Team und mit der Familie zu Hause. „Partnerschaftsprobleme sind in solchen Zeiten eigentlich der Klassiker“, sagt Rindfleisch. „Entfremdung und Unverständnis auf beiden Seiten, aber auch sehr intensive Gespräche und Nähe – es gibt beides.“ In den ersten Wochen waren die IDKO-Beamten – drei Viertel von ihnen sind Männer – vor allem damit beschäftigt, das zu verarbeiten, was sie jeden Tag gesehen haben: hunderte von Leichen, viele von ihnen Kinder. Jetzt, da der größte Teil der Arbeit getan ist, wo es nur noch darum geht, die letzten Details zu überprüfen, gibt es Geplänkel und Reibereien – „wegen Kleinscheiß“, wie Rindflesich sagt.
Für die Seelsorgerin selbst ist es erst der zweite Einsatz mit dem Identifizierungsteam – dass er so lange und so intensiv werden würde, hatte sie nicht erwartet. In ihrem eigentlichen Leben arbeitet die knapp Vierzigjährige als Seelsorgerin in einem Kinderkrankenhaus in Hannover. Jetzt pendelt sie zwischen beiden Welten – was ihr immer schwerer fällt. „Wenn man das hier gesehen und erlebt hat, dann fehlt einem manchmal die Geduld und das Verständnis für die Sorgen und Ängste zu Hause. Aber ich bemühe mich, alles ernst zu nehmen.“ Die Schlafstörungen von Kleinkindern und die Sorge der Eltern stehen plötzlich gegen die Toten in Thailand.
Beate Rindfleisch liebt ihre Arbeit trotzdem. „Hier, in dieser Extremsituation, verdichtet sich das Leben“, sagt die studierte Theologin. „Wenn ich hier nicht helfen kann – wo dann?“ Sie ist dabei an ihr Limit gestoßen, hat gemerkt, dass es eine Grenze gibt für Mitleid, für Leidensfähigkeit und für das Maß an Grauen. Der März sei wirklich schlimm gewesen. „Wir haben rund um die Uhr Tote eingeäschert, jeden Tag habe ich Angehörige betreut und die Kollegen aus dem IDKO-Team, die ohne Unterlass weitere Leichen identifiziert haben.“ Es war die schiere Menge, die unfassbar war. „Ich hatte keine Distanz mehr“, sagt sie.
Sie war das Ventil für alle um sie herum – und brauchte irgendwann selbst eines. „Ich habe damals oft eineinhalb Stunden einfach geheult. Es musste irgendwie raus, ich hatte das Gefühl, dass es zu viel Unglück auf einmal war – danach ging es dann wieder für zwei oder drei Wochen.“ Die Erschöpfung hat sie verdrängt, sie hat sich erst viel später gezeigt, als sie wieder in Deutschland war. Seitdem macht sie selbst Supervision, hat jemanden, der ihr zuhört. Und: „Ich habe ein festes soziales Umfeld, meine Familie und meine Freunde sind sehr wichtig für mich.“ Ihre Mutter hat ihr am Anfang des Einsatzes ein kleines Amulett geschenkt – das trägt sie im Geldbeutel, es soll sie schützen.
Jeder hat sein eigenes Ritual, mit dem er sich gegen das wappnet, was er rational nicht mehr fassen kann. Die Beamten des IDKO-Teams gehen, so erzählt Rindfleisch, vor jedem Einsatz zu einem buddhistischen Mönch, der am Rande der Stätte heimisch geworden ist. „Der spricht ein Gebet, segnet sie und gibt ihnen ein Amulett sowie ein Armband“, erzählt Rindfleisch und lacht. „Das ist ihnen extrem wichtig, jeder Neuankömmling wird mit der Frage begrüßt, ob er denn schon bei dem Mönch gewesen sei.“ Auch Naturwissenschaftler brauchen in manchen Situationen Beistand wenig rationaler Art.
Und dann gibt es die Momente, in denen sie sich entspannen kann, in denen man genügend Distanz zu den Betroffenen hat. Wenn es um Streitereien der Angehörigen geht, wer wo am Sarg stehen darf. Wenn es darum geht, welches Verhältnis der Verstorbene zu wem hatte. Wenn sie merkt, dass wenig familiäre Bindungen da waren. „Zeitweise gibt es aber auch ganz groteske Situationen, in denen ich am liebsten laut lachen würde“, erzählt Rindfleisch. Etwa, als die buddhistischen Mönche beschlossen hatten, die Särge nicht mit zu verbrennen, weil man sie den nächsten Angehörigen dann ja noch einmal verkaufen könnte. „Die haben vor den Augen der Angehörigen die Leichensäcke aus dem Sarg gehievt und einfach so in das Krematorium geschoben.“ Die Angehörigen waren entsetzt.
Rindfleisch hat sofort dafür gesorgt, dass das nicht noch einmal passiert. Aber sie muss trotzdem schmunzeln, wenn sie an den Augenblick denkt – mit genügend Distanz erfasst man auch die Situationskomik. Oder dass sie manche Verbrennungen wiederholen lassen musste, weil nicht genügend und lange genug geheizt wurde. Die Angehörigen hatten deshalb bei der Seebestattung nicht nur Asche, sondern auch Knochenstücke in den Händen. „Man darf sich nichts vormachen: Der Tsunami und alles, was mit ihm zu tun hat, ist auch ein Geschäft.“
Der Einsatz des IDKO-Teams in Thailand geht voraussichtlich bis März 2006. Inzwischen sind zwar die meisten deutschen Opfer identifiziert, aber noch immer sind tausend der insgesamt knapp sechstausend Leichen ohne Namen und ohne Identität. Beate Rindfleischs Auftrag endet mit dem Jahr. In ein paar Tagen muss sie zurück in ihr altes Leben. Ob sie das kann – da ist sie sich nicht sicher. Gedanklich ist sie schon wieder weiter, sucht nach neuen Möglichkeiten, der Enthusiasmus der direkten Hilfe hat sie gepackt. Wahrscheinlich macht sie sich bald wieder auf den Weg. Einsatzorte gibt es ja genug.
SUSANNE AMANN, 29, ist freie Journalistin und lebt seit kurzem wieder in Berlin