Nur du, du und du

HERZ Die Liebe ist also in der Krise. Monogamie hat ausgedient, sagen die, die es wissen wollen. Zu viele Partner, die besser sein könnten. Zu viele Ansprüche. Warum sind wir nicht ehrlich und leben in offenen Beziehungen oder polyamor? Müssen wir die Liebe neu erfinden?

LIEBE, SEX & TREUE

Zahlen und Fakten zu Ehen, Scheidungen und Seitensprüngen

■ Polyamorie: Der Begriff (eingedeutscht, eigentlich „Polyamory“) setzt sich aus dem griechischen polys („viel, mehrere“) und dem lateinischen amor („Liebe“) zusammen.

■ Netz: Neben Dating-Portalen sind Erotik-Portale wie secret.de entstanden, das nach eigenen Angaben täglich 2.000 neue Mitglieder verzeichnet und 118.000 aktive Mitglieder im Monat hat.

■ Geschlechter: Auf Erotik-Portalen wie lovepoint.de oder firstaffair.de melden sich eher Männer an. Sie müssen für Mailkontakte meist bezahlen.

■ Facebook: 33.000 Fans hat die größte Seite, „Polyamory“. Christopher Gottwald, Sprecher des PolyAmoren Netzwerks, sagt: „Wie soll man das zählen? Viele leben so, kennen aber das Wort nicht.

■ Literatur I: Ageeth Veenemans: „Ich liebe zwei Männer“; Holger Lendt, Lisa Fischbach: „Treue ist auch keine Lösung“; Thomas Schroedter, Christina Vetter: „Polyamory: Eine Erinnerung“.

■ Literatur II: Imre Hofmann, Dominique Zimmermann: „Die andere Beziehung“; Oliver Schott: „Lob der offenen Beziehung“; Cornelia Jönsson, Simone Maresch: „111 Gründe, offen zu lieben“.

VON ANNABELLE SEUBERT
(TEXT) UND MICHAEL SZYSZKA (ILLUX)

Er und sie. Das war im Herbst.

Das war in Wien, 2009. „Du siehst müde aus“, hatte er gesagt. Er stand mit einer Tasse Kaffee im Club, in der Nacht, direkt vor ihr. „Willst du auch einen?“

Da wussten sie noch nicht, dass sie Daniel und Nina heißen.

Daniel mochte, dass sich Nina präzise ausdrücken konnte und er ihr Österreichisch hörte, obwohl sie behauptete, Hochdeutsch zu sprechen. Sie sagte „Kasten“ statt „Schrank“ und „passt“ statt „klar“.

Sie wussten nicht, dass sie gleich nach ihren Handynummern fragen und sich schreiben würden, Nina in Wien, Daniel zurück in Aachen, wo er damals wohnte, und später auch seine andere Freundin, die zweite.

Zwei Freundinnen, genau.

Macht man das jetzt so, mit wechselnden, mit mehreren? Polyamorie, die Liebe für viele, hat mit den Piraten ja fast schon eine eigene Partei, und Vereine sowieso. Filme von Woody Allen oder Tom Tykwer erzählen von Dreiecksbeziehungen. Bücher preisen den diskreten Seitensprung als Rettung der Ehe und sprechen von „New Rules“, von neuen Regeln.

Das Ende der Treue?

Aber erst mal der Anfang:

Daniel / Nina:

Was machst du? / Und du? / Buche einen Flug nach Südostasien. / Buchst du mir einen mit?

Sie flogen nach Indonesien, sie verdarben sich beide den Magen und verliebten sich.

Und dann?

Der Mann, der gerade noch flüssig erzählt hat, Daniel P., 29, ein Pianist, ein Rapper, Jeans, Hemd, Adidas, Danger Dan, mit den dunklen Augen und seiner Antilopen Gang, einer, der Gras auf dem Schulhof vertickt hat, heute aber viel weicher ist als früher, wie er sagt – er stockt. Ein Blick, als wolle er sagen: Gehst du nie ins Kino?

So läuft das doch bei Liebesgeschichten, dass sie ab einem bestimmten Punkt einfach „so sind“.

Erzählt werden die Anfangsstorys. Wie wir, ob des Wunders, als das wir es wahrnehmen, dass jemand für dich empfindet, was du für ihn empfindest, Grenzen vergessen. Wir kündigen Jobs. Wir lernen Sprachen. Wir ziehen in fremde Wohnungen, Städte, Länder.

Wenn wir nur jetzt sofort mit dieser einen Person im Bett liegen können.

Oder mit der anderen?

Daniel P. sagt: „Na ja.“

Eine Kneipe wie viele in Berlin-Neukölln, wo er wohnt seit September, die Ledersofas sind platt gesessen, die Kerze klemmt im Aschenbecher. Er fasst noch mal zusammen:

Nina und er haben sich zum Ideal gemacht, keinen Exklusivitätsanspruch zu haben.

Gerade gebe es für Nina neben Daniel noch einen anderen Mann, der hier keinen Namen möchte – und für Daniel neben Nina noch eine andere Frau, die einen Decknamen will: Caroline.

Er sei froh, dass sich der Begriff „Polyamorie“ endlich verbreite. Er müsse sich jetzt nicht mehr ständig erklären, wenn er sage: Ich habe zwei Frauen.

Polyamorie hat mittlerweile ein eigenes Logo, ein Herz mit einer liegenden Acht: dem Unendlichkeitssymbol. Neuere Bücher tragen Titel wie „Treue ist auch keine Lösung“, „Die andere Beziehung. Polyamorie und philosophische Praxis“ oder „111 Gründe, offen zu lieben“. Den Klassiker, „The Ethical Slut“, gibt es längst in erweiterter Auflage.

Sie alle erklären eine Philosophie des Vielliebens, die Ehrlichkeit und Organisation erfordert: Polyamorie ist die Überzeugung, mehrere Beziehungen gleichzeitig führen zu können – solange alle Beteiligten eingeweiht und einverstanden sind. Anders als in offenen Beziehungen geht es nicht nur um Sex, anders als bei Polygamie nicht um die Vielehe. Im Prinzip unterscheidet sich Polyamorie von Monogamie darin, dass sie nicht zu zweit, sondern mindestens zu dritt stattfindet.

Sie wirkt wie das Ergebnis monogamer Zerrissenheit, die Autoren dazu bringt, vom Aussterben der Liebe zu reden – und die wir zum Beispiel so formulieren:

– Der gibt mir nicht, was ich brauche.

– Die neue Kollegin ist echt heiß.

– Der Sex ist gut, aber wir verstehen uns nicht.

– Wir verstehen uns gut, aber der Sex ist nichts.

Wer nicht Spiegelstrich für Spiegelstrich unserem Wunschzettel entspricht, hat ein Problem. Womöglich lieben wir ihn. Er kann aber etwas nicht, von dem wir wollen, dass er es kann. Und, na ja: Der Nächste kann das bestimmt.

Die Monogamie bricht ein Herz. Die Polyamorie holt den Nächsten dazu.

Drei sind das Grundgerüst. Und wirklich nur das. Es gibt Polyamore, die einen Hauptpartner haben und einen Partner daneben, und es gibt Polyamore mit achtzehn Partnern auf einmal und keinem darunter, den sie einer Rangordnung zuschreiben. Bei manchen ist der Sex doch wichtiger, andere wollen eher die emotionale Bindung und Stabilität, quasi die Kleinbürgerfamilie unter den Polys.

Vor allem ist Polyamorie nicht, wie Medien sie oft zeigen: jung und was für Spinner. Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre haben sie gelebt, Rainer Maria Rilke oder Virginia Woolf. Und heute: Tilda Swinton. Der Piraten-Geschäftsführer Johannes Ponader; seine Partei will polyamore Beziehungen gleichstellen. Man darf sich also fragen, weshalb das Interesse an anderen Liebesformen derzeit so oft an die Oberfläche unserer Gesellschaft schwappt. Und ob es vielleicht damit zu tun hat, dass jede zweite Ehe in Deutschland geschieden wird.

Ist monogam out, Daniel?

Er trinkt Schneider Weisse, einen halben Liter.

„Ich kann mir auch vorstellen, mit Nina ein paar Jahre auf einer rosa Wolke zu schweben, durch die keiner so richtig dringt.“

Wie ist es mit Treue – auch keine Lösung?

„Ich glaub, dass ich treu sein wollte und könnte, wenn das jemand von mir wollte. Ich meine: Hey, vielleicht steh ich morgen auf und will nur mit Nina leben.“

Äh. Ist der Polyamore in Wahrheit ein Monogamer?

„Wenn ich viel Sex mit Caroline habe, verändert das den Sex mit Nina.“

Ist er nicht.

„Nina und Caroline mögen sich und lassen sich immer lieb grüßen.“

Wirklich nicht.

Daniel P. bestellt sich den zweiten halben Liter. Und erzählt. Dass er eine mehrjährige monogame Beziehung und danach Affären hatte. Wie er dann Nina traf und das einfach passte – er hatte Musiktherapie studiert und sie Psychotherapie. Er verliebte sich in Aachen – und verkroch sich, als bei ihm Retinitis pigmentosa festgestellt wurde: eine Augenkrankheit, von der es hieß, sie würde ihn in sechs Jahren erblinden lassen.

Irgendwie hätten sie sich immer wieder gefunden, Nina und er, gesehen und geliebt – und im Moment laufe es sehr harmonisch.

Es gebe zwar kein Dogma, dass sie ihm jede Einzelheit ihrer Zweitbeziehung erzählen müsse, aber er finde es „doof, zu spekulieren“.

„Ich ertappe mich manchmal“, er dreht sich eine Zigarette, „dass ich sie frage: Was genau ist das eigentlich mit dem Mann, mit dem du so viel Zeit verbringst?“

Er wolle ihre Männer immer kennenlernen, trotz der Eifersucht. Er wolle ja kein Versprechen oder ein: Okay, verknall ich mich eben nicht. Man müsse dann halt reden. Und reden. Und reden.

Polyamorie: die Lust an der Qual?

Daniel P. raucht. „Es gibt schon die Gefahr, dass man denkt: Boah, ist das anstrengend.“ Man erlebe das auch als Arbeit. Dieses Ende der Treue.

Wobei Daniel P. ja sagen würde, er sei auch jetzt schon treu, doppelt gewissermaßen.

Ehrlichkeit und Offenheit, die Grundwerte der Polyamoren. Vielleicht gar nicht so weit weg von den Jugendlichen, die sich Studien zufolge nach Familienglück sehnen.

Sehen die nur noch nicht: „Das Ende der Liebe“?

Sven Hillenkamp stellt uns einfach mal vor diesen Abgrund einer Diagnose, 304 Seiten tief. Mit polemischen Sätzen wie:

Das Zeitalter der Nichtliebe hat begonnen.

Die Menschen sind frei Fallende – sie sausen durch die Luft, der schweren Masse einer Möglichkeit entgegen.

Alle Menschen, die sie sehen, nehmen sie als Partnermöglichkeiten wahr. Es ist kein Wunder, dass sie Optimisten sind und Nostalgiker; dass sie Suchende sind und bleiben.

Alle sogenannte Liebe ist nur noch Restliebe.

Restliebe? Es klingelt dumpf in der Leitung, sie endet in Stockholm. Erklären Sie mal, Herr Hillenkamp.

„Ich bin davon überzeugt, dass jede Beziehung über weite Strecken unerträglich ist.“ Er erklärt. „Die Tatsache, dass sich zwei Leute arrangieren müssen, mit ihren Sehnsüchten aufeinanderprallen und viele Dinge, die man für lebenswichtig hält, ausbleiben, führt dazu, dass man irgendwann denkt: Mit dem halt ich’s überhaupt nicht aus.“

Unsere Freiheit werde zum Zwang. Wir wissen, es könnte immer besser gehen. So wie wir immer besser arbeiten, leben, aussehen könnten, so könnte der Partner ein besserer sein. Vielleicht waren wir mal mit einem zusammen, der schöner war. Mit einem, der klüger war. Mit einem, der uns ähnlicher war. Unsere Vergleichsmöglichkeiten würden einen Partner verlangen, der nicht existiert: ein Konstrukt aus allen bisherigen und künftigen Partnern. „Sie verwachsen zu einer Hydra mit zahllosen Häuptern“, sagt Hillenkamp, „einem ersehnten Vielwesen.“

Wir wollen also mit einer Vision vögeln?

Viel mehr: Wir erwarten immer die romantische Liebe und haben dafür drei Mindestvoraussetzungen. Sexuelles Begehren ist die erste. „Der Geliebte soll der Meisterregende sein“, sagt Sven Hillenkamp. „Und diese Erregung soll nicht nachlassen, sie soll während der gesamten Dauer dieser Partnerschaft da sein.“

Punkt zwei: Hohe Übereinstimmung von Interessen und Leidenschaften. Wir wollen zusammenpassen. „Denken Sie an die Beziehung unserer Großeltern! Da gab’s weder die Erwartung, dass der Andere der Meisterregende sein oder dass die Erregung anhalten müsse, noch die Erwartung, sich gleichen zu müssen, schon aufgrund der patriarchalen Strukturen.“

Braucht es da echt noch einen dritten Punkt?

Doch, schon: „Der Andere soll einem nicht nur gleichen, er soll auch ganz anders sein. Weil die Liebe verstanden wird als Vehikel. Sie ist so gedacht, das man mit der Hilfe des Anderen erst zu der Existenz kommt, die man anstrebt. Er soll uns helfen, uns selbst zu überschreiten – und nicht wie eine Figur ins Puppenhaus eines fertigen Lebens eingebaut werden.“

Macht man das jetzt so, mit wechselnden, mit mehreren? Polyamorie, die Liebe für viele. Ist Treue out?

Wow.

Aber: Wenn es so ist, wie Hillenkamp sagt, dass die Liebe schlechte Bedingungen hat in einer Epoche ohne Standesschranken oder Autoritäten, ohne Eltern, die einem vorschreiben, was man zu tun hat – hier liegt übrigens der Unterschied zu den Achtundsechzigern –, wenn wir täglich in einer „flüssigen Welt“ aufwachen, in der die Gesellschaft „als Hindernis verschwunden“ und zur bloßen „Gelegenheit“ geworden ist – und einer allein sowieso nicht sämtliche unserer Ansprüche erfüllen kann: Ist es dann nicht nur konsequent, sich mit mehreren einzulassen?

So nach dem Motto: Du kannst mir Spanisch beibringen. Du zeigst mir, wie man ein Fahrrad repariert. An dir mag ich die Haare. An dir, dass du die Brückenpfeilerstellung beherrschst.

„Nein“, sagt Sven Hillenkamp. Obwohl wir uns in unseren Zweierbeziehungen – schön eine nach der anderen, seriell monogam – längst polygam oder polyamor träumen und uns vorstellen: Wie wär’s mit dem oder dem oder dem? In der Realität seien die seelischen Kosten zu hoch. „Was, wenn der Neue – der Dritte – die Nummer eins wird und mich aus dem Boot wirft?“

Ja, was dann? Daniel?

Noch eine Selbstgedrehte zur schummrigen Kneipenbeleuchtung. „Wir legen Wert darauf, das nicht zu hierarchisieren. Erst in dem Moment, in dem ich sage: Der Mensch ist jetzt wichtiger oder der, entstehen doch Konkurrenz und Eifersucht.“ Manchmal, gibt er zu, passiert es trotzdem, dass er sich vergleicht – und dass dann dieses „totale emotionale Chaos“ entsteht.

Neulich hat er Caroline über Buntstifte vermittelt, was er fühlt. „Ein roter steht für Liebe“, hatte er zu ihr gesagt, „ein gelber für Freundschaft und ein oranger für das dazwischen.“ Und dann: „Du bist für mich orange bis rot.“

Und schließlich: „Welche Farbe bin ich für dich?“

Caroline hätte den gelben Stift gewählt. „Nur“, sagt Daniel P., er fährt sich über das Tattoo am Unterarm, eine Antilope, die schwarze Farbe noch frisch, „eine Woche später ist der Stift dann doch orange.“

Andersrum: Als Nina zum ersten Mal mit einem anderen geschlafen habe, habe er das gewusst, bevor sie es sagen konnte.

Er vergisst das Tattoo. „Das war schon komisch. Ich hab mir furchtbar viel Mühe gegeben, dass sie sich nicht schlecht fühlt, und gefragt: Und? War’s schön? Habt ihr verhütet?“

Mehr Liebe.

Mehr Schmerz?

Polyamore versuchen, sich am Glück des Anderen mit dem Anderen zu freuen. Es ist der Versuch, Eifersucht ins Gegenteil zu wenden. Sie haben dafür ein Adjektiv erfunden: frubbelig.

Liebst du beide, sag mal?

„Ich hab’s beiden gesagt.“

Beantwortet das die Frage?

Er lacht. „Beide unterschiedlich.“ Nina sei eine vertraute, tiefe Liebe. Caroline eine aufregende.

Was Hillenkamp dazu sagen würde? Oder erst jemand, der solche Zeilen schreibt:

Die Liebe wird heute zu einer Genussformel positivisiert. Sie hat vor allem angenehme Gefühle zu erzeugen. Sie ist keine Handlung, keine Narration (…) mehr, sondern eine folgenlose Emotion und Erregung.

Die Antwort bleibt ein Geheimnis. Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Berliner Universität der Künste, taucht nicht so gern in der Öffentlichkeit auf. Aber „Agonie des Eros“, Hans Beitrag „zur Krise der Liebe“, verrät seine Gedanken relativ eindeutig. Das Problem, so schreibt er, sei nicht ein Überangebot am Anderen. Das Problem sei unser zum Himmel schreiender Selbstbezug.

Die Liebe soll weich und flauschig sein und bloß keinen Stress in unserem eh schon stressigen Alltag verursachen. Drama, Baby? Nee, echt nicht. Ich muss morgen früh raus.

Wir übersehen das Du. Vor lauter Ich. „Bedeutungen gibt es nur dort, wo es sich selbst irgendwie wiedererkennt.“

Der Eine „ist nicht fähig, den Anderen in seiner Andersheit zu erkennen und diese Andersheit anzuerkennen.“ Folglich: „Degradiert der Andere, seiner Andersheit beraubt, zum Spiegel des Einen, der diesen in seinem Ego bestätigt.“

Wir müssen uns nur oft genug sagen lassen, wie erfolgreich und intelligent und unglaublich sexy wir sind, um Hillenkamps These des Immer-besser-Seinmüssens in die hinterste Ecke unseres Gehirns zu verschieben: Warum sollten wir uns verändern, wenn wir schon die Besten sind? Geht es nach Han, schmoren wir dank unseres Narzissmus in einer „Hölle des Gleichen, der die heutige Gesellschaft immer mehr ähnelt“. Er findet, wir lieben andere nicht mehr. Wir konsumieren sie.

Also. Zeit fürs Internet. Wo sonst ist es dermaßen leicht, über Menschen zu verfügen? Auf Singlebörsen und Sexportalen können wir sie mit wenigen Klicks durch unser Ego-Raster rattern lassen. Blond? Och, nö. Einen Meter siebzig? Viel zu klein. Blümchensex? Langweiler. SM? Perverse.

Und, ernsthaft: Zeit für eine Frau.

Ein Café in einem Vorort von Frankfurt, die Kerzenständer silbern, der Kamin mit falscher Glut. Es gibt Ziegenkäse und laut Karte „2 for 1 Aperol Sour“.

Madeleine May, so will sie heißen, trägt die Haare lang und die Lippen pink. Sie ist Psychologin, Mitte fünfzig, hat zwei erwachsene Töchter und lebt seit dreißig Jahren mit ihrem Mann in einer offenen Beziehung; seit fünfundzwanzig sind sie verheiratet.

Ihre Anfangsstory: ein Segeltörn, eine Woche. „Gefallen hat er mir schon.“ Er ging von Bord, meldete sich vier Wochen später – und ging dann drei Monate in die USA. „Fahr du nach Amerika“, hatte sie gesagt.

„Als er weg war, war das schon so, dass ich ein kleines Krösken hatte.“

Ein was?

„Sagt man so, wo ich herkomme.“

Krösken, Ruhrgebietssprache = vor- oder außereheliches Liebes- und Erotikverhältnis mit Sex; „en Krösken mitenander ham“ – vorsichtige Andeutung einer illegitimen Beziehung, von der keiner etwas wissen sollte, aber jeder weiß.

„Das scheint irgendwie so im Menschen zu sein“, sagt sie. Das Begehren. Das Krösken. Darum hätten sie und ihr Mann sich damals darauf verständigt, dass es in Ordnung sei, fremdzugehen – und sie nicht drüber reden würden. „Warum immer dieses Drama?“, hätten sie sich gesagt, und Byung-Chul Han wäre diese Frage wohl bekannt vorgekommen, hätte er sie gehört.

„Warum sich damit beschweren, wenn es die Beziehung nicht belastet?“

Das erste Mal hat sie ihn inflagranti erwischt, da war „er irgendwie im Schlafzimmer und die Tür zu“. Sie erinnert sich genau, dass da eine Handtasche im Wohnzimmer über dem Sessel hing. Madeleine May sagt: „Das war schon ein Schock, damit konfrontiert zu sein.“

Danach traf sie einen bei einer Feier, sie hatten zwei-, dreimal Sex, und hinterher dachte sie: „Doch ganz gut, dass man das nicht erzählen muss.“

Sie dachte das auch bei dem ersten Mann, der sie nach der Geburt ihrer Kinder verführte. Sie tanzten auf einem Ball, er war der eine Teil des Ehepaares, das mit ihnen am Tisch saß. Ihr Kleid war schwarz und glänzte. Es hatte einen Reißverschluss, vorne. „Er meinte, ich könnte den doch etwas runterziehen.“

„Doch ganz gut, dass man das nicht erzählen muss.“ Sie dachte das vor allem, als sie sich 1998 ihren Internetanschluss einrichten ließ.

Zwischen diesem Jahr und dem Jetzt liegen AOL Instant Messenger und www.joyclub.de, Treffen mit Männern, mit Frauen, mit Männern und Frauen, Gruppensex, Swingerpartys und, so sagt Madeleine May, „die Dornröschenfantasie“.

Sie flüstert ihr Drehbuch.

Ein Sommerabend, die Balkontür steht offen. Ein Einbrecher kommt herein und will mich beklauen. Er sieht mich und ist gleich so entzückt, dass er vergisst, warum er hier ist. Er schleicht sich zu mir – wichtig ist, dass das ganz langsam passiert und ich schlafe –, dann schiebt er mein Negligé zur Seite, an der Schulter vielleicht oder am Schenkel.

Sie flüstert die Umsetzung.

Wir hatten uns im Internet kennengelernt, ein paarmal hin und her gemailt. Dadurch, dass ich selbstständig bin, kann ich mir die Zeit frei einteilen. Wir haben also ausgemacht, dass er zu mir kommt. Er klingelt, ich drücke auf und lasse den Türspalt etwas offen.

■ Mehr: Adrenalin lässt das Herz pochen, die erhöhte Dopaminausschüttung erleichtert die Vorstellung, monogam zu leben, und das Hormon Vasopressin sorgt für eine stärkere Durchblutung der Genitalorgane. Wissenschaftler vermuten, dass die Vasopressinrezeptoren im Gehirn auch bestimmen, wie treu ein Mensch ist.

■ Weniger: Ein Versuch italienischer Forscher ergab, dass die Testosteronkonzentration im Blut bei verliebten Frauen steigt, während sie bei verliebten Männern sinkt. Zudem sinkt die Konzentration des Botenstoffs Serotonin auf Werte wie bei Menschen, die Handlungen zwanghaft wiederholen.

Der Sex steht ihr im Gesicht.

„Ich meine: Da kommt einer, den ich nicht kenne. Das war Wahnsinn.“

„Als Frau“, sie nimmt einen Schluck Weißwein, „kannst du in diesen Foren aus dem Vollen schöpfen. Da bist du Mangelware.“

Madeleine May glüht.

Was ist der Gewinn?

„Ich finde diesen Lebensstil für mich optimal“, sagt sie, das Glas noch in der Hand. „Ich genieße sowohl die Vorzüge einer langen Partnerschaft mit Vertrautheit, Geborgenheit, Zusammengehörigkeit auf der einen Seite als auch das Prickeln beim Kennenlernen eines anderen Mannes und die Magie der anfänglichen Leidenschaft.“

Und was ist der Verlust?

„Seit diesen Netzwerken glaube ich noch viel weniger an die Treue. Ganz früher, als Teenager, habe ich schon an sie geglaubt.“

Madeleine May stellt ihr Glas ab. „Heute sehe ich das so, dass ich für mich mit meinem Partner definieren kann, ob Treue wichtig ist oder nicht.“

Dabei kennt sie auch: das Gefühl, als ihr Mann nach Jahren eine Affäre offenbarte, die sie nicht mal geahnt hatte. Den Liebeskummer wegen Männern, „die das Herz berühren“, den sie in ihrer Ehe austragen muss. Die Neugier auf Polyamorie und zugleich die Angst, ihr Mann könne da nicht mitmachen – oder er könne da mitmachen. Die Angst, den Respekt als Psychologin zu verlieren. Die Kollegen sagen: „Eine offene Beziehung, das gibt’s nicht.“

Diese Frage, die sie sich hin und wieder stellt: „Wo sind eigentlich die Grenzen?“

Die Schwester, die fragt: „Bist du sexsüchtig?“

Die Freundin, die fragt: „Kommst du dir nicht billig vor?“

Die Tochter, die sich wünscht, ihre Eltern wären normal. Damit meint sie: monogam.

Denn die Monogamie bleibt doch weiterhin die Norm. Wir geben uns liberaler und toleranter denn je, haben ausgefallene Sexdetails zu berichten oder zu verschweigen – und stecken fast alle in Zweierbeziehungen.

Fehlt uns vielleicht was – ist das die Frage?

Müssen wir die Liebe neu erfinden?

„Die Liebe muss neu erfunden werden, das weiß man.“ Hat 1873 schon Rimbaud geschrieben, so lapidar, als sei das ein Naturgesetz.

Madeleine May sagt: „Das würde ich nicht sagen.“

Byung-Chul Han sagt: „Der Eros besiegt die Depression.“

Sven Hillenkamp sagt: „Ich habe eine Freundin und zwei Kinder.“

Daniel P. sagt: „Die Liebe ist wie ein Zaubertrick. In dem Moment, in dem du ihn kennst, ist er entzaubert.“

Komm schon. Eine Prognose.

Er wischt den Tabak vom Tisch und steht auf.

Annabelle Seubert, 27, ist sonntaz-Redakteurin. Ihre letzte lange Liebe zeigte ihr Ahornsirup

Michael Szyszka, 29, ist freier Illustrator. Seine erste lange Beziehung ist seit Kurzem vorbei