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Archiv-Artikel

Sie kann auch anders

IMAGES Sanft und nachdenklich: Die grüne Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt verkörpert einen neuen Politikertypus. So wirkt das. Dafür tut sie einiges

Katrin Göring-Eckardt

■ Die Politikerin: Sie betet, hält viel auf Familie und kann Strümpfe stricken. Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt will Milieus erschließen, die die CDU für sich beansprucht. Sie war in der rot-grünen Regierungszeit unter Kanzler Gerhard Schröder Fraktionschefin. Nach der Regierungszeit strafte ihre Partei sie ab, woraufhin sie Bundestagsvizepräsidentin und Gesicht der evangelischen Kirche wurde.

■ Der Parteitag: Die Grünen veranstalten nächstes Wochenende ihren Programm-Parteitag in Berlin. 2.600 Änderungsanträge liegen vor. Ja, Sie lesen richtig: zweitausendsechshundert.

VON ULRICH SCHULTE (TEXT) UND ANJA WEBER (FOTO)

Jetzt kann er es ihr endlich persönlich sagen. Michael Groothues, der Militärpfarrer aus Aurich, ist mit einer Gruppe von Soldaten nach Berlin gekommen, wo sie auch die Grünen im Bundestag besuchen.

Raum 6114, Jakob-Kaiser-Haus. Groothues, 55 Jahre alt, Pullunder überm karierten Hemd, rutscht auf seinem Stuhl nach vorn. Keine drei Meter vor ihm, am langen Tisch, sitzt – ja, da sitzt sie. Diese großartige Frau.

„Ich bewundere Sie“, Groothues muss das jetzt mal sagen. Wie sie dem knochenharten Politikgeschäft standhalte. Diesem Druck. Übermenschlich sei, was sie da leiste. „Und“, sagt Groothues, bevor er sich wieder zurücklehnt, „Sie sind eine Frau, kein knallharter Mann. Empfindsam und einfühlsam.“

Katrin Göring-Eckardt, Spitzenkandidatin der Grünen, legt den Kopf schief, sie lächelt. Der Rücken durchgedrückt, die Hände gefaltet. Ein Moment, wie ihn die Grünen-Pressestelle nicht schöner erfinden könnte.

Später, in ihrem weiten, hellen Büro zwei Etagen tiefer, ein schwarzes, gestricktes Tuch um die Schultern, wird sie sagen: „Es gibt ja das Klischee, Politiker seien hart, laut, auf Macht, nicht auf Dialog aus. Die meisten sind übrigens nicht so. Und so will ich auch nicht sein.“

Sanft, nachdenklich. Katrin Göring-Eckardt hat das Lächeln, das den Grünen die Wahl gewinnen soll.

Die andere Grüne. Nicht so aufgeregt wie Roth, nicht so verbissen wie Künast, nicht so arrogant wie Trittin. Göring-Eckardt, 46 Jahre, verheiratet mit einem Thüringer Pfarrer, zwei erwachsene Söhne, Johannes und Friedrich, Tangotänzerin, verkörpert einen anderen, neuen Typus einer Politikerin. Sie ist eine, die fragt. Die zuhört, nicht belehrt. Eine, die bürgerliche Werte nicht nur schätzt, sondern lebt.

Ihre Eltern haben eine Tanzschule. Sie präsentiert

Das ist das Image. Das ist das Bild, das sie, das ihre Mitarbeiterinnen, ihre Vertrauten und Verbündeten pflegen.

Wenn es sein muss, auch mit dem Stahlschwamm.

Sie machen das gut. Das Bild glänzt. Als die Grünen-Mitglieder Katrin Göring-Eckardt im November 2012 in der ersten Urwahl ihrer Geschichte zur Frontfrau neben Jürgen Trittin kürten, ging ein Raunen durch die bürgerliche Presse. Dieser Habitus! Was für eine „naheliegende Sensation“ (Die Zeit). Mancher Journalist gerät in Verzückung, wenn sie sich eine braune Haarsträhne hinter das Ohr schiebt.

So viel Sanftheit in diesem brutalen Geschäft, geht das wirklich?

Man kann sich zu einem Spaziergang mit Marion Merrbach verabreden, um dieser Frage, um Katrin Göring-Eckardt ein wenig näher zu kommen. Merrbach, 63, eine kleine Frau mit Bubischnitt, wartet in ihrer roten Allwetterjacke in der Bahnhofsvorhalle von Gotha, einem 45.000-Einwohner-Städtchen in Thüringen. Hier wuchs Göring-Eckardt auf, hier machte sie 1984 ihr Abitur an der Erweiterten Oberschule, ihr Vater betrieb eine Tanzschule. Gotha, das war Heimat.

Die Schülerin Katrin ging in eine R-Klasse, R wie erweiterter Russischunterricht, das durften nur die mit den besten Noten. Merrbach grüßt die Lehrerkolleginnen, als sie auf die gelb getünchte Jugendstil-Burg mit ihren Türmchen zuläuft. Das Gymnasium, das Katrin Göring-Eckardts Schule war. Als es die DDR noch gab und sie in den hohen, kühlen Räumen ihr Abitur machte, war das die Erweiterte Oberschule des Landkreises. Merrbach hat hier 38 Jahre unterrichtet, Deutsch und Musik.

„Katrin war eine gute und sehr interessierte Schülerin“, sagt Merrbach. Ehrgeizig, zielstrebig, geschliffene Deutsch-Aufsätze.

Auf einem Schwarzweißfoto der Abschlussklasse grinst ein Mädchen mit Fransenpony in der letzten Reihe. In die Abi-Zeitschrift, die aus aneinandergehefteten Kopien voll handschriftlicher Erinnerungen besteht, schreibt die 18 Jahre alte Göring-Eckardt als Lieblingsspruch ein Zitat des Theologen Albert Schweitzer: „Die Gütigkeit gegen alle Geschöpfe führt zu wahrer Menschlichkeit.“ Sie unterzeichnet mit „Katerine Eckardt“.

Katerine, nicht Katrin, weil es vier Katrins in der Klasse gab. Sie wollte sich abheben.

In Gotha betrieben ihre Eltern die Tanzschule. Selbständige, aber ohne unternehmerisches Risiko. Es ging nicht nur um das Tanzen, sondern auch um Benimm in der sozialistischen Gesellschaft. „Die Eckardts waren das, was man Bildungsbürger nennt – feingeistig und kulturinteressiert“, sagt Lutz Schilling, Direktor des Thüringischen Staatsarchivs Gotha, der früher selbst beim Vater tanzen lernte.

Jungs auf der einen Seite des Saals, die Mädchen auf der anderen, ein Kassettenrecorder, zwei Boxen. Gestatten, Fräulein. Hand vor den Mund beim Gähnen. Nicht mit den Fingern schnipsen zur Musik.

Katrin Göring-Eckardt sitzt auf der Rückbank eines silbernen Dienst-Passats, A 7 in Richtung Würzburg. Vor einer Stunde noch hat sie in der Stadthalle Biberach geredet. Politischer Aschermittwoch, hunderte johlende Grüne, Witzchen über die FDP, dazu ungesalzene Bio-Cashew-Kerne und Weißwürste.

Draußen Felder, Wiesen, Bayern. Vorn checkt die Büroleiterin auf dem Smartphone die Nachrichten. „Ramsaurier“, so hat Göring-Eckardt den Verkehrsminister Peter Ramsauer dort genannt. Der Witz steht jetzt auf einer Newsseite.

Die Spitzenkandidatin kramt im Picknickkorb. Friemelt einen Müsliriegel mit Datteln aus dem Papier, reicht ihn dem Fahrer, nimmt selbst Schokolade. Und denkt über ihre Jugend nach.

„Mein Vater war ein autoritärer Knochen.“ Jahrgang 1921. Als Tanzschullehrer in der DDR habe er sie in Jugendwerkhöfe mitgenommen, wo sie mit Jungs tanzen sollte, die für das Regime als schwer erziehbar galten, erzählt sie, während der Wagen über die Autobahn rauscht.

Er bewunderte Franz Josef Strauß. Zu Hause fand sie als Teenagerin, die gerade Anne Frank gelesen hatte, Hitlers „Mein Kampf“ auf dem Schrank. Der Vater hatte das Buch in das Neue Deutschland eingewickelt.

Mit zwölf ließ er sie auf Stöckelschuhen vor 120 aufgekratzten 16-Jährigen durch den Tanzsaal laufen. „Ich musste mich gerade halten und präsentieren.“

Es muss eine Jugend voll Disziplin gewesen sein. Und Härte.

Trittin redet und redet. Sie muss jetzt auch mal

„Mein Kampf“ im ND! Solche Anekdoten klingen fast zu gut, um wahr zu sein.

Klar, er könne über damals sprechen, sagt ihr Bruder am Telefon, Tanzschule Eckardt, Gotha: Nur solle man erst in Berlin fragen. Nun bekommt man eine erste Ahnung von der anderen Göring-Eckardt: Sie untersagt das Gespräch. Nicht ohne es dem Reporter persönlich zu erklären. Leise, freundlich. Bestimmt.

Sie kontrolliert Informationen sorgfältig. Am besten kommen sie nur von ihr. Aber das verstehen Sie doch sicher, oder?

Es muss eine Jugend mit mehreren Wahrheiten gewesen sein. Der des sozialistischen Staates, die in den FDJ-Nachmittagen in der Schule galt. Der des autoritären Vaters zu Hause. Und ihrer eigenen.

Präsentieren wie in der Tanzschule, das ist jetzt ihre Aufgabe. Göring-Eckardt reist im Wahlkampf durch die Republik, ihr Amt als Präses der Synode der Evangelischen Kirche ruht.

Die Basis der Grünen hat sie mit der Urwahl im November wieder in die erste Reihe der Mächtigen gestellt. Plötzlich war Göring-Eckardt, parteiintern nur „KGE“ genannt, die wichtigste Politikerin der Grünen. Nur Trittin ist mächtiger.

Wenn die SPD und die Grünen bei der Bundestagswahl im Herbst eine Mehrheit gewinnen, wird sie Ministerin. Arbeit und Soziales, Energie oder Inneres, viel ist möglich. Scheitert Rot-Grün, wird sie Fraktionsvorsitzende. Sie hätte dann für die Wahl 2017 alles in der Hand.

Kameras klicken. Trittin redet. Redet. Und redet. Göring-Eckardt macht ihre unbewegte Miene. Sie knetet ganz leicht die Hand. Es fällt kaum auf. Das nervt ein bisschen jetzt. Irgendwie muss sie da reingrätschen. Bald.

Neben ihr hält Jürgen Trittin einen Kurzvortrag über Angela Merkels Strategielosigkeit. Ein Mittwoch im März, das Spitzenduo steht vormittags in der Berliner Wahlkampfzentrale, im grünen Basislager, und stellt einen Abwählkalender vor. Noch 200 Tage, jeden Tag ein Grund, warum Merkel wegmuss. Die Grünen halten sich selbst ja immer noch für frecher als andere Parteien.

Gerade hat Göring-Eckardt ein Kalenderblatt abgerissen, da blieb ein grüner Papierfetzen auf schwarzem Grund hängen. Schwarz, grün – blöde Symbolik. Sie hat daran herumgezupft. Das verdammte Ding blieb hängen.

Jetzt fragt der Reuters-Journalist zur politischen Lage, und wie so oft fragt er nur Trittin. Den heimlichen Chef der Grünen.

Als der endlich fertig ist, legt Göring-Eckardt los, ohne Frage, die Fernsehleute schwenken überrascht die Mikrofone zu ihr hinüber. Zwei Mal geht das so. Frage an Trittin. Sie hängt ihre Antwort dran.

Katrin Göring-Eckardt weigert sich, das stille Lächeln neben Jürgen Trittin zu sein. Sie will auf Augenhöhe. Sie weiß, dass sie beide das neue Machtzentrum der Grünen bilden. Sie telefonieren oder simsen alle zwei, drei Tage, treffen sich zu Vier-Augen-Gesprächen in Ruhe im Restaurant, es gibt eine Spitzenkandidaten-Besprechung jeden Freitagvormittag, bei dem die Parteichefs Claudia Roth und Cem Özdemir außen vor sind.

Doch Augenhöhe mit dem 1,96 Meter großen Trittin, das ist nicht immer so einfach. Plenarsaal des Bundestages, ein Donnerstag im Dezember. Vorhin dröhnte Sigmar Gabriel in den Saal hinein, jetzt geht Göring-Eckardt mit schnellen Schritten zum Rednerpult. Die erste wichtige Rede als Spitzenkandidatin, die erste in der Europapolitik, Trittins Terrain.

Ihre Stimme wirkt noch dünner nach Gabriel. Das Getragene, Pastorale ist irgendwie falsch hier. Den lautesten Applaus erntet ein schaler Witz mit Helmut Kohl. Womit über diese Rede eigentlich alles gesagt wäre.

Göring-Eckardts Stärke ist das persönliche Gespräch. Die Soldatengruppe im Jakob-Kaiser-Haus. Breite Typen in Sportsweatern mit Gel im Kurzhaarschnitt. Als einer ihr die Niedriglöhne eines Werftarbeiters vorhält, immer wieder, erklärt sie ruhig, geduldig. Das wirkt.

Sie packt die Menschen mit ihrer klugen, leiseren Art und auch mit ihrem angenehm-ironischen Humor, der Witze über die eigene Partei zulässt. Nicht unbedingt aber: über sich selbst.

Manche Grüne sagen, die Urwahl sei für sie die letzten Chance gewesen, noch einmal ganz oben mitzuspielen. Denn die, die viele Neumitglieder als neues Gesicht wählten, hat bei den Grünen schon alles hinter sich. Steiler Aufstieg, tiefer Fall.

Eigentlich war sie weg. Die Basis hat sie zurückgeholt.

Jetzt kämpft sie, um zu bleiben.

Man ahnt, wie, wenn man mit Parteifreundinnen und Parteifreunden über sie spricht. Oft nur streng vertraulich, keine Namen. Zitate, die nur ein wenig kritisch klingen könnten, werden dann beim Autorisieren reihenweise gestrichen. Die haben Angst.

Krista Sager steht Katrin Göring-Eckardt politisch nahe. Auch eine Reala. Sie hat drei Jahre lang mit ihr zusammen die Bundestagsfraktion der Grünen geleitet. Sager ist heute 59, blonde, schulterlange Haare, braune Hornbrille. In ihrem Lieblingscafé in der Hamburger Davidstraße bestellt sie erst mal ihr Puddingtörtchen.

Sie erinnert sich genau, wie Joschka Fischer, der mächtigste Grüne, sie damals in Hamburg anrief, im Herbst 2002. Sie solle den Fraktionsvorsitz machen – mit Katrin. „Eine toughe, junge Frau aus dem Osten, die sich als Reala positionierte. Das machte sie auch für Fischer interessant.“

Es war die zweite Legislatur von Rot-Grün unter Kanzler Gerhard Schröder und Joschka Fischer: Bald fünf Millionen Arbeitslose fürchtet die Bundesagentur für Arbeit. Die Hans-Werner Sinns der Republik fordern im Fernsehen harte Einschnitte. Und Göring-Eckardt, die die Truppen zusammenhalten muss, übernimmt den neoliberalen Sound. Die Mitfühlende verkauft Einschnitte in den Sozialstaat als Freiheitsgewinn.

Sie fordert die Abschaffung der Pflegeversicherung, schwärmt von „Bewegungsangeboten“ für Arbeitslose und bejubelt die Agenda 2010 als „revolutionäre Umbruchphase“. Grüne, die dabei waren, erzählen, wie Göring-Eckardt und Superminister Wolfgang Clement in Koalitionsausschüssen verkündeten: „Jeder kriegt ein Angebot.“

Die Pflegeversicherung abschaffen. Mal eben.

Supermarktregale einräumen. Als Bewegungsangebot.

Wie viel Merkel steckt in Göring-Eckardt?

Göring-Eckardt, die scheinbar Besonnene, ist damals fast naiv selbstbewusst und rauflustig. Eine ostdeutsche Mittdreißigerin, vor gerade mal 13 Jahren in eine völlig neue Gesellschaft geworfen, glaubt, einfach mal so den Sozialstaat der Bundesrepublik umbauen zu können. „Sie hatte Chuzpe“, sagt Sager und lächelt.

Aber wovon ist sie überzeugt?

So wie Katrin Göring-Eckardt damals die begeisterte Reformerin gab, gibt sie nun die mitfühlende Sozialpolitikerin: „Sozialpolitisch bin ich eher links.“

Positiv könnte man es so formulieren: Sie hat die Fähigkeit, sich völlig neu zu erfinden.

Sie ist im Zweifel da, wo die Mehrheit ist, der Zeitgeist. Das kann für Lernfähigkeit sprechen, für geschickte Karriereplanung oder viel Opportunismus.

Wahrscheinlich stimmt alles irgendwie. Vielleicht ist die Zeit der Überzeugungstäter in der Politik ja vorbei, überlegt Krista Sager in dem Hamburger Café. Die Zeit der Sagers, Künasts, der Roths. Der in den 70er-Jahren politisierten Grünen, den Überzeugtesten der Überzeugten.

„Katrin trägt keinen schweren Rucksack voller fester Überzeugungen mit sich herum, sondern verhält sich situativ, schaut, was geht, kann schnell auf Veränderungen reagieren. Wenn man sich auf ein anderes System einlässt, ist es wohl auch nicht erfolgversprechend, sich an zu viele eherne Überzeugungen zu klammern.“

Denken in mehreren Wahrheiten, so wie damals, zwischen DDR-Elternhaus und FDJ. So gesehen hätte die Grüne viel gemeinsam mit einer anderen Ostdeutschen, die auch steil Karriere machte und ab und an zu Kurswechseln neigt: Göring-Eckardt, die Merkel der Grünen?

Auch Katrin Göring-Eckardt kann, das bezeugen Fraktionskollegen, Menschen zuckersüß lächelnd brutale Dinge ins Gesicht sagen. Alle, wirklich alle Grünen, die man fragt, bescheinigen ihr Machtinstinkt, die Zuschreibungen reichen von „sehr strategisch“ (ihre Grünen-Freundin Thea Dückert) bis zu „eiskalt und abgebrüht“ (ihre Gegner).

Katrin Göring-Eckardt wird viel dafür tun, sich die Chance, die ihr die Urwahl eröffnet hat, nicht mehr nehmen zu lassen.

Um zu verstehen, wie genau das läuft, hilft es, ein bisschen in Thüringen herumzutelefonieren. Ein kleiner Landesverband mit 720 Mitgliedern, aber für Göring-Eckardt wurde er 1998 zum Sprungbrett in den Bundestag.

Grüne betonen ja gerne, die Zeiten der Flügelarithmetik seien längst vorbei, doch in Thüringen bekriegen sich Realos und Linke noch richtig.

Es werden kühle E-Mails verschickt, die nur aus einem Satz bestehen, der umso heftiger trifft. Delegierte werden abtelefoniert, fiese Gerüchte gestreut.

Die Macht der Realos wächst: Göring-Eckardts Leute verweigerten der linken Frontfrau Astrid Rothe-Beinlich 2009 den Fraktionsvorsitz, obwohl die vorher als Spitzenkandidatin über die Dörfer getingelt war und die Fraktion wieder in den Landtag geführt hatte. Und sie sorgten dafür, dass 2011 die letzte echte Linke im Realo-dominierten Landesvorstand gehen musste.

Göring-Eckardt bleibt im Hintergrund, sie tanzt im Bund. Aber sie organisiert ihre Netzwerke per SMS präzise und effektiv. In der Fraktion sitzen sechs Abgeordnete. Eine war unter ihr Landesgeschäftsführerin, zwei arbeiteten in ihrem Büro.

Als karrierebewusste Thüringer Junggrüne stellt man sich besser gut mit ihr.

Katrin Göring-Eckardt schickt eine Mitarbeiterin nach Filterkaffee, der Vollautomat ist kaputt. Noch ein Gespräch in ihrem Büro, über Macht, aus gegebenem Anlass.

Wie viel Merkel steckt in Ihnen, Frau Göring-Eckardt? „Mich regt total auf, dass sie keine innere Linie hat.“

Wie ist Ihr Verhältnis zu Macht? „Ich will Macht, um politisch gestalten zu können.“

Sind Sie eine Machtstrategin? „Strategie ist nicht meine allererste Fähigkeit.“

Wirklich nicht? „Ich überlege nicht permanent, welche Figur muss ich in welche Position schieben, damit hinterher etwas Bestimmtes passiert. Ich kann auch nicht Schach spielen.“

Sie lächelt.

Ulrich Schulte, 38, leitet das Parlamentsbüro der taz

Anja Weber ist freie Fotografin in Berlin