: „Die Taliban werden nicht gewinnen“
Der Afghanistan-Experte Michael Semple hat gute Kontakte zu Taliban. Er sagt: Nur Verhandlungen ohne Bedingungen führen zum Frieden
■ 46, arbeitet seit 25 Jahren in und zu Afghanistan und Pakistan. Der Ire Michael Semple spricht Paschtu, Dari und Urdu, er gilt als einer der intimsten internationalen Kenner Afghanistans. In den 80er Jahren leitete er in Kabul eine Hilfsorganisation. Später arbeitete er dort für die UNO, als Berater der britischen Botschaft und als stellvertretender EU-Sonderbotschafter. Seit 2009 forscht er am Carr Center für Menschenrechtspolitik der Harvard-Universität zu Verhandlungslösungen des Konflikts mit den Taliban. Im September 2009 erschien beim US-Institute of Peace sein Buch „Versöhnung in Afghanistan“. HAN
INTERVIEW SVEN HANSEN
taz: Herr Semple, Sie haben schon 2007 als stellvertretender EU-Sonderbotschafter Kontakte mit den Taliban in der Unruheprovinz Helmand aufgenommen. Wie ist das gelaufen?
Michael Semple: Ich habe mit 200 Taliban gesprochen, nicht nur in Helmand. Es war Teil unseres Mandats, Versöhnungsbemühungen der Regierung zu unterstützen. Ansprechpartner war der Nationale Sicherheitsrat. Bei den Taliban hatte ich mit der mittleren Ebene zu tun, Kommandeuren mit je 30 bis 50 Kämpfern. Wir besprachen, was es heißt, sich der Regierung anzuschließen, welche Optionen und Garantien es gibt und welche Position die internationale Gemeinschaft und die Regierung dazu hat. Ich konnte 50 Taliban überzeugen, sich der Regierung anzuschließen.
Was hat Sie dafür qualifiziert?
Ich arbeitete zur Zeit des Taliban-Regimes in Afghanistan und hatte im Rahmen humanitärer Programme mit Taliban-Führern zu tun. Ich hielt die Kontakte, als ich nach 2001 für die UN arbeitete und versuchen sollte, sie in den politischen Prozess zu integrieren. Ich entwickelte Ideen mit, die in das Versöhnungsprogramm der Regierung von 2005 einflossen. Leider hat es nie richtig funktioniert, weil es an strategischer Umsetzung und Finanzierung fehlte. Soll jemand die Seite wechseln, braucht es konkrete Angebote.
Ende 2007 wurden Sie und ein UN-Kollege plötzlich ausgewiesen. Warum?
Es gab auf der obersten Ebene der Regierung keine Klarheit, was sie mit dem Versöhnungsprogramm wollte. Helmands Gouverneur wollte aus dem Programm finanzielle Vorteile ziehen. Als wir da nicht mitspielten, schwärzte er uns im Präsidentenpalast an.
Im Jahr 2009 gab es Gespräche zwischen dem Umfeld der Regierung und der Taliban in Saudi-Arabien. Präsident Hamid Karsai kommt zur Afghanistan-Konferenz am Donnerstag mit einem Reintegrations- und Versöhnungsprogramm. Woher kommt dieser Wandel?
Seit Dezember 2001 erklärt Karsai, er wolle sich mit der Taliban-Führung einigen. Die Ernsthaftigkeit misst sich an der organisatorischen Umsetzung. Regierung, internationale Mächte und die Taliban misstrauen sich. Das Misstrauen der Taliban reicht weit zurück. Sie griffen nach ihrer Niederlage 2001 nicht gleich wieder zu den Waffen, sondern kehrten meist in ihre Dörfer zurück und wollten sich arrangieren. Ihr Regime steckte schon vor der Niederlage in einer Krise. Viele Taliban erwarteten, dass sie sich am neuen System beteiligen könnten. Im Jahr 2002 waren bewaffnete Kämpfe in Afghanistan fast alles Konflikte zwischen Verbündeten Karsais. Doch wer sich von den Taliban mit dem neuen Regime arrangieren wollte, wurde von dessen Angehörigen schikaniert. Karsai setzte im Süden jene wieder ein, die 2004 von den Taliban vertrieben worden waren. Auch die USA schnappten sich Taliban-Kommandeure, die sich mit der Regierung arrangieren wollten, und brachten sie nach Guantánamo.
Ist Karsais Versöhnungsprogramm ein Fortschritt?
Es ist gut, dass er Farbe bekennt und dies international unterstützt wird. Karsai will den Eindruck erwecken, dass es sich um eine besser ausgestattete Version des Programms von 2005 handelt. Auch spricht er jetzt von Reintegration. Der Begriff Versöhnung ist eher den höheren Ebenen vorbehalten, also eine Verhandlungslösung. Die ist noch nicht im Angebot. Vielmehr sollen jetzt Taliban für Geld und Jobs ihre Waffen niederlegen. Sie sollen dafür keinen politischen Einfluss bekommen, aber Garantien für ihre Sicherheit und den Lebensunterhalt. Wer die Taliban verlassen will, muss um sein Leben fürchten. Im Jahr 2005 gab es weder Schutzmaßnahmen noch Mittel für den Lebensunterhalt. Auch waren nur wenige Teilnehmer echte Taliban.
Gibt es moderate oder versöhnungsbereite Taliban?
Ich spreche von pragmatischen Taliban. Die religiöse Haltung – moderat oder strikt – ist irrelevant im Vergleich zu der Frage, wer bereit ist, politisch zu verhandeln. Im Nordirland-Konflikt etwa ist Gerry Adams ein Hardliner, aber eben pragmatisch genug zu sehen, dass eine politische Strategie erfolgversprechender ist als der bewaffnete Kampf. So gibt es auch pragmatische Taliban – bis hinein in die Führung.
An wen richtet sich Karsais Programm?
Es zielt auf die mittlere Ebene, also jene, die nicht viel Zeit in Pakistan verbringen und etwa 50 bis 100 Mann unter sich haben. Würde die höhere Ebene nicht mitmachen?
Um solche Konflikte zu beenden, gibt es grundsätzlich drei Methoden: Militär, Geld und Politik. Militär wird schon eingesetzt. Jetzt wird es auch mit Geld versucht. Reintegration ist nur eine Art der Aufstandsbekämpfung. Für die höhere Ebene bräuchte es ernsthafte politische Verhandlungen, wofür es bisher keinen Plan gibt.
Die Taliban fordern vor Verhandlungen den Abzug aller ausländischen Truppen, die Regierung die Anerkennung der Verfassung.
Die Forderungen sind Unsinn: Die ausländischen Truppen würden nur zu gerne abziehen, gäbe es keinen Aufstand mehr. Umgekehrt haben die Taliban aus ihrer Herrschaft Lehren gezogen. Ihr Regime war schlicht zu unbeliebt. Deshalb geben sie sich jetzt nationalistisch und mobilisieren gegen die ausländischen Truppen. Nach deren Abzug käme es zum Bürgerkrieg, doch würden die heute wesentlich wohlhabenderen Fraktionen einen Taliban-Sieg verhindern. Die Frage ist: Wann sehen die Pragmatiker bei den Taliban, dass sie lieber Teil des Systems werden sollten? Umgekehrt ist auch die Verfassung nicht sakrosankt. Die Regierung bricht sie selbst nach Belieben. Es geht nicht darum anzukennen, dass die Verfassung nicht geändert werden darf, sondern dass nicht alles mit Gewalt zu ändern versucht wird. Viele Taliban können nur durch ein Arrangement befriedet werden und nicht durch bloße Kapitulation.
Der US-Verteidigungsminister fordert eine Teilnahme der Taliban an Wahlen, der deutsche Verteidigungsminister ihre Regierungsbeteiligung.
Es geht weniger darum, dass Taliban bei Wahlen kandidieren als dass sie Wahlen akzeptieren und Wähler nicht einschüchtern. Es gibt schon sechs von den Taliban unterstützte Abgeordnete. Die Beteiligung von Taliban an der Regierung macht erst mal mehr Sinn. Bei einer Verhandlungslösung müssten Taliban aber auch in Institutionen integriert werden wie die Justiz, zumindest in den Taliban-Hochburgen.
Sollte es nicht Prinzipien geben, die nicht verhandelbar sind?
Wer sich für Menschen- und Frauenrechte sowie Rechtsstaatlichkeit einsetzt, befürchtet bei einer Integration der Taliban den Verlust aller Fortschritte seit 2001. Das ist berechtigt. Doch ist die Integration der Taliban nicht die Hauptbedrohung für Menschen- und Frauenrechte in Afghanistan. Die Taliban haben kein Monopol auf den Konservativismus. Als Karsai 2009 das schiitische Familiengesetz durchsetzte …
… das Frauen verbietet, das Haus ohne Genehmigung ihrer Männer zu verlassen und Letzteren einen Rechtsanspruch auf regelmäßigen Geschlechtsverkehr gibt …
… da gab es liberalere Alternativen. Doch Karsai wollte schiitischen Geistlichen gefallen.
Und die Taliban?
Die Taliban streben sicher eine konservative Atmosphäre an, aber nicht mehr ein Bildungsverbot für Frauen.
Die Taliban greifen doch heute wieder Schulen und Schulmädchen an.
Auf beiden Seiten bedarf es des Vertrauens, weshalb es bis zu einem Abkommen zwischen Taliban und Regierung noch weit ist. Die Vertrauensbildung hat noch nicht begonnen. Erst dann dürfte klar werden, dass sich die Haltung zur Bildung für Frauen geändert hat. Bisher sind das Lippenbekenntnisse. Umgekehrt haben auch die Taliban Kriterien, ob sie der Gegenseite trauen können. Dazu gehören Sicherheitsgarantien und dass Unschuldige nicht mehr festgenommen oder getötet werden.
Warum sollten die Taliban verhandeln? Sie werden stärker. Zudem wird in westlichen Ländern die Militärintervention immer unbeliebter und US-Präsident Barack Obama kündigt schon einen Termin für den Abzugsbeginn an.
Seit Obamas Ankündigung spielt der Zeitfaktor in der Tat eine Rolle im Kalkül der Taliban. Das gibt Hardlinern Auftrieb. Eine Verhandlungslösung gibt es erst, wenn alle Seiten einsehen, dass es keinen militärischen Sieg gibt. Vielleicht kommen wir da nie hin. Ein Bürgerkrieg ist nach einem Abzug ausländischer Truppen wahrscheinlich, aber kein Sieg der Taliban. Eine Verhandlungslösung ist deshalb für alle am aussichtsreichsten.
Warum ist ein Sieg der Taliban unwahrscheinlich?
Die Taliban haben in den vergangenen Jahren einen Teil der Bevölkerung mobilisieren können, weil sie mit der Ablehnung der internationalen Truppen nationalistische Gefühle ansprechen. Ziehen die Truppen ab, entfällt das. Die Taliban sind nur im Südwesten und Südosten stark. Woanders sind sie zu schwach, um die Macht zu übernehmen. Nach einem Abzug der Ausländer würden die Regierungstruppen weiter Hilfe erhalten und die Städte kontrollieren.