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Archiv-Artikel

ARNO FRANK über GESCHÖPFE Entertainosaurus Rex

In meiner Wohnung, direkt neben der Tür zum Badezimmer, lebt ein Dinosaurier. Leider ist er krank

Ich weiß nicht mehr, wie viele Abenteuer Pinbot und ich schon gemeinsam bestanden haben. Im Verlauf von vielleicht zehn Jahren müssen es jedenfalls genug gewesen sein, um zwischen uns das wortlose Einvernehmen echter Freundschaft wachsen zu lassen, die auch jetzt noch von Bestand ist, da er schon eine ganze Weile schweigt. Viele Worte haben wir ohnehin nie gewechselt. Oft redete nur ich, nannte ihn „Freundchen!“ oder „Schuft!“, überschüttete ihn in der Hitze des Gefechts auch mal mit derberen Flüchen, manchmal verteilte ich Fußtritte.

All das aber nahm Pinbot meistens mit bewunderungswürdigem Gleichmut hin. Nur manchmal, ganz selten, erhob Pinbot seine Stimme und dröhnte: „Now I see you!“

Das war auch schon das höchste der Gefühle: „Now I see you.“ Viel mehr als diesen einzigen Satz gab sein Wortschatz nie her. Verglichen mit seinen Brüdern war Pinbot damit sogar schon regelrecht geschwätzig. Andere klassische Flipperautomaten, die Ende der Siebzigerjahre vom Fließband der US-Firma Williams rollten, kamen kaum über das rätselhaft-hysterische Bliepen und Piepsen hinaus, das „Star Wars“-Freunde von der Blechdose R2D2 kennen. Erst der Terminator, ebenfalls ein Erfolgsmodell von Williams, schickte seine Spieler mit einem hämischen „Hasta la vista, baby“ in die Wüste – aber mit der Stimme von Arnold Schwarzenegger und einer von Hollywood lizensierten Spielidee.

Pinbot ist ein gigantischer Weltallroboter, der mit den Planeten flippert. Über mehrere Stufen kann sich der Spieler von der Erde über die Venus und den Mars bis zur finalen Jackpotrunde hochspielen. Generös blinkend, gab Pinbot dann statt nur einer gleich zwei Flipperkugeln auf einmal frei, öffnete sein mechanisches Visier und erlaubte einen Blick auf zwei leere Augenhöhlen aus Metall. Manchmal gelang es jetzt dem besonders geschickten Spieler, beide Kugeln dort zu versenken.

Dann – und nur dann – ging ein triumphales Beben durch den Automaten, als hätten ihm diese silbernen Augäpfel eben erst die Sehkraft geschenkt, und unter einem wahren Freudenfeuerwerk bunter Blinklichter verkündete er mit feierlichem Ernst: „Now I see you!“

Doch seine metallisch schnarrende Stimme, die aus den tiefsten Tiefen seiner rätselhaften Relais und Schaltkreise zu kommen schien – sie ist verstummt. Seit dieser Party vor vier Jahren, bei der ein heimtückischer Trottel das naturgemäß recht robuste Gerät beschädigte, herrscht Verwirrung unter den Trafos und Kabeln und Kondensatoren in seinem höhlenhaften Inneren.

Schweigend und verdunkelt und mit geschlossenem Visier steht Pinbot seitdem in meiner Wohnung, eine hochbeinige Anklage, ein schlafender Staubfänger neben der Tür zum Badezimmer. Dabei lebt er noch. Wenn ich ihn an die Steckdose anschließe, erwacht das tonnenschwere mechanische Monster ächzend und keuchend aus seinem Schlaf wie ein mit Elektroschocks reanimierter Tyrannosaurus Rex, der letzte Vertreter einer untergegangenen Unterhaltungsindustrie. Für ein Spiel reicht es zwar nicht, sieht aber im Dunkeln immer noch beeindruckend aus.

Inzwischen hat die Firma Williams, einst führender und später weltweit letzter Hersteller von Flipperautomaten überhaupt, aufgehört zu existieren. Inzwischen hat sogar mein kleiner Bruder aufgehört, mich für die perfekte Flippersimulation auf seiner Sony-Playstation erwärmen zu wollen. Er kann nicht verstehen, was ich so schmerzlich vermisse. Er sagt, wir seien doch heute von hoch entwickelten Sprach- und Kommunikationssystemen regelrecht umzingelt. Navigationssysteme informieren uns säuselnd: „An der nächsten Kreuzung links!“, Computerprogramme verkünden freudig: „Sie haben Post.“ Und Züge der Deutschen Bahn warnen vollautomatisch: „Vorsicht bei der Abfahrt!“ Mag sein.

Aber seit Pinbot schweigt, habe ich von keinem Automaten und kaum einem Menschen mehr einen so tiefen Satz gehört wie diesen: „Jetzt erkenne ich dich!“

Fotohinweis: ARNO FRANK GESCHÖPFE Sie reparieren Flipper? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN