: Bildschichten der Angst
INNERER FILM „Can Go Through Skin“ ist das beeindruckende Debüt der Filmemacherin Esther Rots über das zersplitterte Leben einer jungen Frau
Marieke lacht ein bisschen zu schnell und zu laut, wenn sie versucht, sich am Telefon noch schnell für den Abend zu verabreden. Mit irgendjemandem, den sie von irgendwoher kennt. Ganz egal. Charmant versucht sie zu sein und witzig. Man könnte sie tatsächlich für eine kontaktfreudige und amüsierwillige Person halten, wenn man nicht sähe, wie sie beim Telefonieren durch ihre Wohnung kreuzt, als müsse sie sich jeden Zentimeter Boden erst erkämpfen, wie flach sie dabei atmet und wie sehr es sie erschöpft, lebenslustig zu klingen. Seit ihr Freund sie verlassen hat, läuft ihr Leben aus der Spur. Alles an ihr ist ein bisschen verrutscht, ihre Stimme, ihre Körperhaltung, ihre Kleidung. Marieke stößt ständig irgendwo an, als habe sie kein Gespür mehr dafür, wo sie anfängt und wo sie aufhört.
An diesem Abend klappt es nicht mit der Verstellung und der Normalität. Sie lässt sich ein Bad ein und bestellt eine Pizza. Der Pizzabote überfällt sie im Badezimmer, schlägt sie halb bewusstlos, ertränkt sie beinahe und vergewaltigt sie. Eine Freundin kommt hinzu, wird ebenfalls attackiert, kann aber sich und Marieke befreien. Der Täter wird gefasst. Es kommt zum Prozess. Und es ist schwer zu sagen, was Marieke mehr zusetzt, der offene, schamlose Blick des Täters hinüber zur Bank der Klägerinnen oder das geringe Strafmaß, das sein Leben nicht heillos aus den Angeln heben wird.
„Can Go Through Skin“ erzählt eine Geschichte, die man im Kino eigentlich nicht gerne erzählt bekommt, weil sie zu heikel, zu voyeuristisch und zerstörerisch ist und weil sie mit der Kamera das Publikum meist ganz Blick und die Misshandelten ganz Opfer und Objekt werden lässt. Doch das Langfilmdebüt der niederländischen Regisseurin Esther Rots findet einen so beeindruckenden, klugen und kunstvollen Weg, Mariekes Erleben zu bebildern, wie man das lange nicht mehr im Kino gesehen hat.
Denn Rots folgt von Anfang an Mariekes innerem Film, seinen Sprüngen durch die Zeit und unterschiedliche Bewusstseinsstufen, durch Paranoia, Rachefantasien, Erinnerung und durch die Ausschnitte des wirklichen Lebens, das sich kaum erkennbar immer wieder durch die Bildschichten der Angst zwängt.
Marieke verlässt Amsterdam, kauft sich ein heruntergekommenes Haus in ländlicher Einsamkeit und versucht tapfer, ihre Existenz instand zusetzen. Unbeholfen reagiert sie auf die Kontaktaufnahme des Nachbarn, bittet ihn hinein, stößt ihn brüllend wieder von sich, klopft wieder an seine Tür. Und so geht das vor und zurück. Mal sehen wir von Marieke nur Details, mal nur eine verwischte Bewegung, mal taucht sie ganz ab in die monströse Stille einer winterlichen Landschaft, mal dröhnt ein tropfender Wasserhahn oder ein knarrender Balken auf der Tonspur. Es ist, als ob sich alle Kontexte und Relationen gegenseitig auflösen und sich nichts in diesem zersplitterten Leben noch zu einer linearen Erzählung formen mag.
Ein beschädigtes Wesen in einem heruntergekommenen Haus, erst allein, dann mit kranken Katzen, die stellvertretend an Mariekes Zustand krepieren, das ist über weite Strecken das Szenario des Films. Mit jeder Faser ihres Körpers ringt Marieke darum, in die Gesten und Gebräuche des zwischenmenschlichen Alltags zurückzufinden. Und dank der großartigen Darstellerin Rifka Lodeizen kann man ihr dabei zusehen, wie sie Normalität spielt, wie sie versucht, sie zu halten, schließlich überzieht und dann wieder in den Küchenschrank flüchtet, der Marieke bei Angstattacken als panic room dient. Sie fährt ihrem Peiniger nicht durch die Haut, wie der Filmtitel ihrer Rachefantasie Rechnung trägt. Sie wird ihm nicht wieder begegnen. Aber der Film fährt mit dem Skalpell durch die Oberflächen des Denkens, Fühlens und Fantasierens. Ein ästhetischer Akt, aber auch ein zutiefst solidarischer. BIRGIT GLOMBITZA
„Can Go Through Skin“. Regie: Esther Rots. Mit Rifka Lodeizen, Wim Opbrouc u. a. Niederlande 2009, 97 Min. Ab 28. 1. im Arsenal-Kino