: 60 Jahre nicht ein Wort
DOKU Eine Auschwitz-Überlebende erzählt: „Gerdas Schweigen“, 22.45 Uhr, RBB
„Ich wollte das mit ins Grab nehmen. Bis Knut mich gefragt hat.“ Gerda Schrage sitzt mit gefalteten Händen auf dem Bett ihrer Wohnung und blickt nachdenklich aus dem Fenster ins herbstliche New York. Die heute 90-jährige Jüdin hat Auschwitz überlebt. Ihr dort geborenes Kind starb im Vernichtungslager. Die Erinnerungen an den Tod ihrer Tochter hat Gerda 60 Jahre tief in sich vergraben. Bis sich 2004 der Journalist Knut Elstermann bei ihr meldete. Dessen Familie hatte sie während der Nazizeit in Berlin quasi adoptiert. Dass „Tante Gerda“ ein Geheimnis hat, wusste Elstermann lange. Er wollte ein Buch drüber schreiben und Gerda vertraute sich ihm an.
Die einfühlsame Dokumentation „Gerdas Schweigen“ von Britta Wauer basiert auf dem 2005 erschienenen Buch von Elstermann – geht aber weit darüber hinaus. Wie tief darf ein Journalist in die persönliche Vergangenheit der Protagonistin eindringen? Welche Folgen nimmt er damit in Kauf? Eindeutige Antworten darauf hat Elstermann keine. Gerdas strenggläubiger Sohn Steven sollte nie von dem Geheimnis erfahren. Durch das Buch ließ es sich nicht verhindern. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist seitdem gestört. „Du hast die Geschichte dem Feind erzählt“, einem Deutschen, so Stevens Vorwurf. Elstermann sagt, ein bisschen Schuld treffe auch ihn.
Britta Wauer gibt Gerda das Wort, lässt sie eindringlich erzählen von ihren Ängsten damals und heute. Elstermann spricht über seine Recherche und seine Bedenken. Mit Privatfotos, historischen Dokumentaraufnahmen und Zeitzeugeninterviews tastet sich Wauer an Gerdas Lebensgeschichte heran. Oft sind die Erzählungen nur schwer zu ertragen, etwa wenn Gerda erklärt, wie der KZ-Arzt Mengele ihr Kind verhungern ließ. „Steven ist viel mehr Opfer der Nazis als ich selbst“, sagt sie trotzdem. Ein kaum nachvollziehbarer Satz. Gerdas Schuldgefühle scheinen tief zu sitzen. PAUL WRUSCH