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Archiv-Artikel

Nonsens-Poesie mit ernstem Hintergrund

GESCHICHTE Einst Stars, heute fast vergessen: Ein Abend in der Neuköllner Oper präsentiert die Komponistenfamilie Fall

Die Studiobühne der Neuköllner Oper ist schwarz, die Kleidung der MusikerInnen auch, sie blicken ernst ins Publikum, fast missmutig. Über ihnen eine Diaprojektion: Fünf Männer mit K.-u.-K.-Walrossbärten purzeln übereinander, schneiden Grimassen, haben einen Riesenspaß. Passt das zueinander?

Ja. Als die ersten Töne fast ebenso lustig purzeln wie die Männer auf dem Dia, wird rasch klar: Die Übellaunigkeit ist nur Show, der Abend wird heiter. Die Schnellpolka „Wirrwarr“ von Moritz Fall ist da ein passender Start: Er ist Vater der Musiker-Dynastie aus Wien und Berlin, bekannt in den ersten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts für ihre Couplets, Operetten und Schlager – und heute praktisch vergessen.

Mit „Fallstudien“ bringt das Ensemble Zwockhaus ihre Musik in der Neuköllner Oper wieder auf die Bühne, und zwar in Form eines Gesprächskonzerts: Winfried Radeke führt durch den Abend, Maria Thomaschke und Andreas Jocksch singen, begleitet von Volker Suhre (Kontrabass), Susanne Stock (Akkordeon) und Nikolai Orloff (Klavier).

Das Stück verfolgt Musik und Leben der Falls. Es beginnt mit Vater Moritz Fall (1848–1922), der als Militärmusiker in Diensten des Heeres von Österreich-Ungarn vor allem Märsche schrieb. Ende des 19. Jahrhunderts quittierte er den Dienst und zog nach Berlin, um sich ganz der Musik zu widmen. Das Ensemble Zwockhaus zeigt seine verspielte Seite, mit der Polka sowie dem kecken Schnellsprech-Couplet „Wehe“, meisterhaft vorgetragen von Thomaschke und Jocksch.

Nach Jazz klingt’s nicht

Der älteste Fall-Sohn Siegfried (1877–1943) studierte in Berlin bei Max Bruch, schrieb Opern und Lieder, war aber nur mäßig erfolgreich. Drei klagende Lieder mit sonorem Gesang über das Leben, Zypressen und Gräber machen klar, warum der Vater seinen Ältesten bald verdonnerte, Klavierauszüge für Bruder Leo zu schreiben. Denn der (1873–1925) gilt mit Operetten wie „Madame Pompadour“ und „Die Rose von Stambul“ als einer der bedeutendsten Vertreter der Silbernen Operettenära. Er schrieb heitere Lieder hinein, die wie „Die drei Mieter der Frau Schlüter“ harmlos-fröhlich (und für heutige Verhältnisse ziemlich prüde) mit dem Fremdgehen kokettieren. Sogar eine Jazz-Adaption versuchte Leo Fall: „Wenn der Jimmy mit der Mimmy“ misslingt jedoch, Jazz ist kaum herauszuhören, und der Text erzählt vom „Rhythmus / wo man mitmuss“ und von „Titzi, Fritzi / alle üben diesen Schritt sie“.

Lustig ist es trotzdem, das Ensemble geht mit, Maria Thomaschke und Andreas Jocksch knautschen beim Gesang ihre Gesichter und haben sichtlich Spaß. Auch Winfried Radeke führt so entspannt-jovial durch den Abend, als kennte er jeden im Publikum persönlich, und die Stimmung steigt noch mehr mit den Gassenhauern des jüngsten Fall-Sohns Richard (1882–1945) aus den 20ern: Nonsens-Poesie höchster Qualität, etwa über Nischni Nowgorod, wo es kein Kussverbot gibt oder über Moritz, der zu schön ist, um treu zu sein, und am Ende sogar mit dem Portier anbändelt. Auch „Was machst Du mit dem Knie, lieber Hans“ ist von ihm – fröhliche Lieder mit dem angestaubten Charme von einst. So endet die Show nach einer guten Stunde beschwingt.

Um diese Stimmung nicht zu zerstören, steht das letzte Kapitel der Familie nur im Programmheft: Siegfried und Richard wurden in Auschwitz bzw. Theresienstadt ermordet. „Fallstudien“ gehört zum Projekt des Vereins Musica Reanimata und des Zwockhaus-Ensembles, die NS-verfolgte Komponisten vor dem Vergessen bewahren wollen. Das gelingt in der Neuköllner Oper: „Fallstudien“ ist keine Lehrstunde, kein Abend nur für das Bildungsbürgertum, sondern eine Erinnerung an das Lebensgefühl vor 100 Jahren. MALTE GÖBEL

Neuköllner Oper, Karl-Marx-Straße 131/133, 28. 4., 16 Uhr, 2. 5., 20 Uhr