: „Es ist legitim, zu gehen“
Buhen, Türknallen, Reclam lesen? Wie zeigt der Theatergänger sein Missfallen? Und wie besser nicht? Ein Blick in die Praxis mit dem Bremer Schauspieler Guido Gallmann
taz: Beim Autofahren ist klar, dass Vorsicht geboten ist, sobald sich ein Fahrer mit Gamshut nähert. Wie sehen die Theaterbesucher aus, vor denen man sich als Schauspieler fürchtet?
Guido Gallmann: Ich würde sagen vor denen mit Reclam-Heftchen in der Hand. Kürzlich habe ich eine schöne Geschichte von einem Vater gehört, der mit seinem Sohn im Theater saß. Mit Reclam-Heftchen. Der Vorhang war geschlossen und er hat dem Sohn vorgelesen: „So: ,Der Vorhang geht auf und wir sehen ein gutbürgerliches Wohnzimmer. Hinten rechts ist eine Tür. Vorne links steht ein Tisch‘“. Das war in der Volksbühne, der Vorhang ging auf und man sah, ich vermute, die Pyramide von Gizeh und rechts hinten ein Klo.
taz: Gibt es für den Fall, dass der Zuschauer – mit oder ohne Reclam-Band – keinen Gefallen an der Inszenierung findet, eine adäquate Art, sein Missfallen zu zeigen?
Gallmann: Ich finde es absolut legitim, wenn Leute nachher „Buh“ rufen. Man kann auch keinen zwingen zu bleiben, wenn es ihm körperliche Schmerzen bereitet. Natürlich ist es hart, wenn jemand rausgeht und die Türen knallt. Aber ich finde es legitim.
taz: Auch bevor er überhaupt den zweiten Akt gesehen hat?
Gallmann: Ich würde mich natürlich freuen, wenn er auch den zweiten Akt anguckte. Aber es gibt ja vielleicht Situationen, wo man so genervt ist, dass man wirklich besser geht. Das Schlimmste sind eher Leute, die dann anfangen, laut mit ihrer Frau zu quatschen und nicht rausgehen.
taz: Darf ein Zuschauer lachen, auch wenn es nicht komisch ist?
Gallmann: Auf jeden Fall. Lachen würde ich immer als Zeichen dafür nehmen, dass er zuhört und zuschaut. Und dass er berührt ist von etwas. Wie im „Fest“, nachdem klar ist, dass es Missbrauch gegeben hat, da sagt mein Kollege am Bremer Theater irgendwann ganz wütend: „Es wird schon wieder gemütlich“. Und die Leute lachen aus Fassungslosigkeit.
taz: Sie klingen da sehr abgeklärt. Wie lange braucht man, um sich als Schauspieler gegen Ablehnung abzuhärten?
Gallmann: Es ist sicher sehr unterschiedlich. An der Berliner Volksbühne haben Punks schon mal eine Schauspielerin verprügelt, bis sich die Bühnentechniker eingemischt haben. Wenn man dort eine halbe Stunde improvisiert und die Leute schreien „Hör auf, du Arschloch“ und dann ein Schauspieler sagt: „So, jetzt fange ich noch mal von vorne an“ – das muss man wollen und können. So abgeklärt bin ich nicht. Man registriert Ablehnung und ich finde das immer noch nicht einfach.
taz: Und wann ist es Ihnen nicht gelungen, damit umzugehen?
Gallmann: Mir fällt nichts ein... Doch: In Winterthur hatten wir ein Gastspiel mit Familienschlagern. Der zweite Abend war ausverkauft, was toll ist für Winterthur mit seinen 800 Leuten und wir haben erst hinterher erfahren, dass das Leute waren, die das „leichte Musikabonnement“ haben und normalerweise Operetten angucken. Es waren sehr alte Leute und die waren mit der deutsch-deutschen Geschichte, angedeutetem Sexualverkehr und einem erschossenen alten Mann wirklich überfordert und sind gegangen. Und zwar zu Hundertschaften.
taz: Und Sie haben ihnen dabei zugeguckt?
Gallmann: Ich saß vorn an der Rampe und musste eigentlich ein ganz trauriges Lied singen und ich sah, wie vor mir ganz viele Menschen aufstanden und langsam schlurfend den Saal verließen. Und keiner rief etwas. Sie waren ganz dezent. Sie waren einfach niedergeschmettert.
taz: Gab es etwas, was Sie den Winterthurern gern hinterher gerufen hätten?
Gallmann: Na ja, da denkt man manchmal, dass wir vielleicht auch eine Art von Vermittlung brauchen. Eine Einführung kann ja wahre Wunder wirken.
taz: Wen hätten Sie denn da im Blick? Sind es abgesehen von den Reclam-Menschen eher Männer oder Frauen, die murren? Alte oder Junge?
Gallmann: Ich würde sagen, die Waage neigt sich mehr zu den Männern. Die wissen eher, wie es zu sein hat. Sie schlafen allerdings auch eher ein. Abgesehen davon finde ich es schwierig zu sagen. Es gibt genauso 20-Jährige, die sagen: Ich finde schon, dass „Leonce und Lena“ auf einer grünen Wiese spielen muss.
taz: Worin sind die Leute erfinderischer? In ihren Huldigungen oder im Missfallen?
Gallmann: Natürlich ist es toll, wenn sie „Bravo“ rufen. Ganz selten gibt es auch Standing Ovations. Machmal bekommt man Post, das ist dann sehr berührend.
taz: Zum Schluss bitte drei Kriterien, die jeder Theatergänger erfüllen sollte.
Gallmann: Muss? Wenn er Gefallen daran finden will, sollte er neugierig sein. Er sollte sich Geschichten erzählen lassen. Und vielleicht sich ein kindliches Gemüt bewahrt haben.
Interview: Friederike Gräff