Die Ungnade der frühen Geburt

Die Zukunft der streitbaren Bremer Behindertenpädagogik ist düster: Von einstmals neun Professuren sind nur noch vier vorhanden. Zwei davon sind unbesetzt, die anderen laufen per Pensionierung aus. Dabei wurde hier die Integration entwickelt

Bremen taz ■ Unter dem Stichwort „Bremer Profil“ hat sich der Uni-Studiengang Behindertenpädagogik seit seiner Gründung 1974 einen bundesweiten Ruf erworben: Am bekanntesten wurde das Modell der integrativen Kindergärten und Grundschulen. Auch die Auflösung isolierender Großeinrichtungen und das Bemühen, neben einer medizinischen auch die gesellschaftliche Dimension von „Behinderung“ in den Blick zu nehmen, sorgte für produktive Kontroversen. Mit all‘ dem könnte es in absehbarer Zeit vorbei sein.

In einem „Hilferuf“ haben sich VertreterInnen der derzeit fast 500 Studierenden der Behindertenpädagogik an die Öffentlichkeit gewandt, um auf die drohende Auflösung des Studiengangs hinzuweisen. Hintergrund ist der Einstellungsstopp der Bremer Hochschulen, der das sowohl fürs Lehramt als auch für den außerschulischen Bereich qualifizierende Institut für Behindertenpädagogik besonders hart trifft. Von einstmals neun Professuren sind ohnehin nur noch vier vorhanden – von denen eine im Juli, die letzte in wenigen Jahren ausläuft. Derzeit improvisiere man mit Vertretungen, sagt Noch-Lehrstuhl-Inhaber Rudolf Kretschmann. Um den Betrieb dauerhaft aufrecht zu erhalten, seien jedoch mindestens vier ProfessorInnen erforderlich. Die „Pädagogik bei geistig Behinderten“ ist bereits vakant, ebenso der seit über einem Jahr von einem Ruheständler verwaltete Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik.

Mit anderen Worten: Das Fach leidet unter der Ungnade der frühen Geburt – wo sonst kann man auf nahezu einen Pensionierungsstreich ein ganzes Fach auflösen? Für die Universitätsleitung könnte das eine kaum zu widerstehende Versuchung darstellen, zumal sie unter extremem Spardruck ist. Bereits im vergangenen Jahr hatte das Bildungsressort die Einsparung von „nahezu 100 Millionen Euro“ bei den Bremer Hochschulen bis 2010 angekündigt. Die Uni rechnet nach Angaben ihres Sprechers Eberhard Scholz unter anderem mit rund 50 bis 2015 einzusparenden Professuren.

Speziell in der Behindertenpädagogik wurden bereits zum laufenden Wintersemester keine Studierenden mehr aufgenommen. Dabei sei die Auslastung „so groß wie in der Informatik“, betont Kretschmann. Auch die Absolventenquote sei mit 70 Prozent deutlich über dem universitären Schnitt von 40 Prozent. Insofern sie das Stellen-Sparen nicht nur „unsinnig“, sondern auch „unfair“.

Ist die Bremer Behindertenpädagogik damit vor ihren absehbaren Ende? Für Rainer Gausepohl, Sprecher des Bildungsressorts, stellen die derzeit geltenden „Berufungsvorbehalte“ noch keinerlei Vorentscheidung für die etwaige Schließung von Studiengängen dar. Timo Struckmeyer, einer der engagierten Studierenden, ist skeptischer. Er befürchtet, dass ohne hinreichend ausgebildetes Fachpersonal beeinträchtigte Kinder künftig „achselzuckend in Sondersituationen verfrachtet“ würden: „Dort können sie sich dann untereinander ihre Verhaltensauffälligkeiten abgucken.“ HB