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Archiv-Artikel

in der taz vor 15 jahren: infratest über deutschland, die sanfte republik

Eine repräsentative Umfrage von Infratest bringt es an den Tag: Deutschland ist ökologisch und sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei. Deutschland ist grün bis in die Knochen, pazifistisch wie die Sitzblockierer in Mutlangen, weltoffen wie Otto Schily und hedonistisch wie Joschka Fischer. Deutschland – das ist das Beste, was aus der Zukunft werden kann, kein „Wintermärchen“, sondern die ewige Sommerfrische einer sanften Republik.

Was die Infratest-Mitarbeiter über den Wunschstaat der Deutschen (in Ost und West) herausfanden, bestätigt die schlimmsten Befürchtungen über die Tiefenwirkung von zehn Jahren grüner Politik. Der Umweltschutz ist längst – für 86 Prozent der 2.000 Befragten – Staatsziel Nummer eins. Für das Militär will kein Mensch mehr eine zusätzliche Mark lockermachen. Drei Viertel der Deutschen wollen keine „Weltmacht Deutschland“. Aus internationalen Konflikten soll sich das Land heraushalten, dafür um so intensiver die Freundschaft mit der Sowjetunion pflegen (Platz 1 in der Sympathieskala mit 59 Prozent). Eine Minderheit von 21 Prozent läßt auch „wirtschaftliche Not“ als Einwanderungsgrund gelten, und während 67 Prozent mehr „Achtung vor dem Alter“ fordern, halten gerade 29 Prozent mehr „Scham über die Verbrechen des Faschismus“ für angebracht. Nur bei „Sicherheit und Ordnung“ hört der Spaß auf, wechselt die milde Gesamtstimmung in den Tonfall einer radikalen Ossi-Mehrheit: Jeweils zwei Drittel sind für mehr öffentliche Polizeipräsenz und mehr Disziplin in den Schulen. 40 Prozent (gegenüber 22 Prozent im Westen) wollen, „daß die Menschen mehr Achtung vor staatlicher Autorität zeigen“.

Wer den Stasi-Oberst im besonderen Einsatz, Alexander Schalck-Golodkowski, im Fernsehinterview dabei beobachten konnte, wie er seinen bedingungslosen, ja „leidenschaftlichen“ Einsatz für das SED-Regime mit dem Bekenntnis verband, von dem Etikettenschwindel mit Whiskeyflaschen in den Intershops nichts gewußt zu haben, der hat seinen deutschen Michel wiedererkannt: mit besten Absichten und Ideen treu und redlich bis zur nächsten Wende.

Reinhard Mohr, taz vom 5. 1. 1991