: Sarin in kleinen Mengen
SYRIEN Die US-Geheimdienste gehen davon aus, dass in Syrien Giftgas eingesetzt wurde. Unklar bleibt jedoch, woher die Information kommt – und wem sie nutzen soll
■ Das Gift: Sarin ist eine flüssige, farb- und geruchslose Substanz. Über Haut und Atmung aufgenommen, greift es das zentrale Nervensystem an, führt zu Lähmungen und zum Ersticken. Es gilt als einer der gefährlichsten chemischen Kampfstoffe. Schon ein Tropfen kann einen Menschen töten.
■ Die Erfindung: Sarin wurde 1938 in Wuppertal-Elberfeld von zwei deutschen Wissenschaftlern entdeckt, die stärkere Pestizide entwickeln wollten. Es wurde im 2. Weltkrieg nicht verwendet.
■ Der Einsatz: Der bekannteste dokumentierte und folgenschwerste Einsatz von Sarin fand 1988 in der irakisch-kurdischen Stadt Halabja durch das Regime von Saddam Hussein statt. Von den 70.000 Einwohnern kamen etwa 5.000 ums Leben. In Japan setzte die Sekte Aum Shinrikyo 1995 Sarin bei einem Anschlag auf die U-Bahn in Tokio ein. Dabei wurden 13 Menschen getötet und fast 1.000 verletzt. (b.s.)
VON BERND PICKERT
BERLIN taz | Nach Israel, Frankreich und Großbritannien spricht nun auch die US-Regierung davon, das syrische Regime habe möglicherweise „in kleinem Maßstab“ chemische Waffen gegen die Aufständischen eingesetzt. In einem Brief des Weißen Hauses an führende Senatoren heißt es: „Unsere Geheimdienste kommen mit unterschiedlichen Graden von Gewissheit zu dem Schluss, dass das syrische Regime in kleinem Umfang chemische Waffen in Syrien eingesetzt hat, insbesondere das Giftgas Sarin.“
Der Brief macht aber auch sehr deutlich, dass es weiterhin keinerlei Gewissheit gibt. Bisher basierten die Analysen nur auf Fotografien und in einigen auf Youtube veröffentlichten Videos, die Verletzte mit weißem Schaum vor dem Mund zeigen – ein Hinweis auf möglichen Giftgaseinsatz. Inzwischen sagen die britische und die französische Regierung, sie seien im Besitz von Bodenproben, in denen Spurenelemente gefunden worden seien, die möglicherweise von Sarin stammen. Nur: Niemand weiß, woher diese Proben genau kommen, wer sie wann genommen hat und ob sie tatsächlich im ursprünglichen Zustand ins Ausland gelangt sind.
„Die Transportkette ist unklar, so können wir nicht bestätigen, wo und unter welchen Umständen die Proben genommen wurden“, schreibt das Weiße Haus. US-Präsident Barack Obama hatte mehrfach betont, sollte das Regime von Syriens Präsident Baschar al-Assad chemische Waffen gegen die Opposition einsetzen, wäre damit eine „rote Linie“ überschritten. Dann würden die USA über eine mögliche Intervention neu nachdenken.
Aktuell ist davon in Washington jedoch nicht die Rede. „Angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, und angesichts der Lehren, die wir aus unseren eigenen jüngsten Erfahrungen gezogen haben, reichen geheimdienstliche Einschätzungen nicht aus – nur glaubwürdige und bestätigte Fakten, die uns mit einem gewissen Grad an Sicherheit ausstatten, werden unsere Entscheidungsfindung leiten“, heißt es im Brief des Weißen Hauses. Der Einmarsch im Irak 2003 war mit Geheimdienstinformationen über Massenvernichtungswaffen begründet worden, die sich später als falsch erwiesen.
Die USA haben sich wie die Europäische Union der Forderung Frankreichs und Großbritanniens angeschlossen, dass UN-Experten vor Ort die Fakten überprüfen sollen. „Wir haben gesehen, dass das Regime in Syrien keinen großen Respekt vor Menschenleben hat. Aber wir können nichts Endgültiges sagen, solange wir keine Beweise gesehen haben“, sagte ein Sprecher der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton am Freitag in Brüssel.
Die syrische Regierung lehnt Untersuchungen jedoch ab. Ein Sprecher sagte am Freitag, die Regierung habe keine Chemiewaffen eingesetzt und werde das auch nicht tun. Die Vorwürfe seien „Lügen“.
BRIEF DES WEISSEN HAUSES
Auch Militärexperten fragen, warum das Assad-Regime chemische Waffen so einsetzen sollte. Der erfahrene Kriegsreporter des britischen Observer, Peter Beaumont, schreibt: „Der Nutzen solcher Waffen für jene, die skrupellos genug sind, sie einzusetzen, besteht nicht nur darin, dass sie eine große Menge von Menschen töten, sondern dass ihr Einsatz auch einen tiefen psychischen Eindruck hinterlässt. Anders gesagt: Gas setzt man gemeinhin nicht diskret ein, sondern nachdrücklich.“
Darauf geht auch Jan van Aken, Militärexperte der Linksfraktion im Bundestag, in einer Pressemitteilung ein: „Militärisch ergibt der Einsatz kleinster Mengen Sarin punktuell an einem Ort überhaupt keinen Sinn. Eine einzelne Saringranate bringt in einem Gefecht kaum taktische Vorteile, während sie strategisch mit dem großen Risiko behaftet ist, dass die USA militärisch angreifen.“ Der Einsatz einzelner Sarinwaffen sei daher „im höchsten Maße irrational“. Allerdings, so van Aken, müsse man seit Obamas Ankündigungen einer „roten Linie“ durchaus „damit rechnen, dass Rebellen alles daransetzen, einen Chemiewaffenangriff vorzutäuschen oder gar selbst auszulösen, um damit einen Kriegseintritt der USA zu provozieren.“
Doch was sollten die USA dann tun? Die Optionen reichen von der Einrichtung einer Flugverbotszone über die stärkere Bewaffnung der Rebellen bis zur direkten Intervention. Aber: Um eine Flugverbotszone durchzusetzen, müsste zunächst die syrische Flugabwehr außer Kraft gesetzt werden, und die ist wesentlich komplexer, als sie etwa in Libyen war. Aufseiten der Rebellen laufen die USA Gefahr, Organisationen wie die starke, mit al-Qaida verbundene Dschabhat al-Nusra zu unterstützen. Und für einen direkten Einsatz von Bodentruppen wirbt in den kriegsmüden USA derzeit niemand. „Es geht darum“, sagte die demokratische Senatorin Claire McCaskill, die Option „mit den wenigsten Schwächen zu finden, die Assad dort rausbringt.“