: Berlin blickt nach Jerusalem
Der israelische Ministerpräsident Scharon liegt im Sterben. In Berlin lebende Israelis halten sein Ausscheiden aus der Politik für einen Verlust. Bei der Nachfolgefrage hat jeder seine eigene Theorie
VON CIGDEM AKYOL UND SANDRA COURANT
Noch ist unklar, ob Ariel Scharon seine schwere Krankheit überleben oder ob er diesen letzten Kampf verlieren wird. Eines aber ist sicher: Auf die politische Bühne wird der 77 Jahre alte Ministerpräsident Israels nicht mehr zurückkehren.
Israelis in Berlin verfolgen gebannt, wie er in einem Krankenhaus in Jerusalem um sein Leben ringt. Auch solche Fragen bewegen sie: Wer wird sein Nachfolger? Immerhin sind in drei Monaten Wahlen. Und wie wird es jetzt mit dem ohnehin stagnierenden Friedensprozess im Nahen Osten weitergehen? Die Antworten fallen höchst unterschiedlich aus.
„Scharon symbolisiert für die Israelis Stabilität. Auf ihm ruhte ihre Hoffnung für die erfolgreiche Fortsetzung der Gespräche mit den Palästinensern“, sagt zum Beispiel Amit Gilad, Sprecher der israelischen Botschaft. Allerdings hinge die Zukunft des Landes nicht nur von einer Person ab, so Gilad. „Es wird kein politisches Vakuum geben.“ Dass Israels Demokratie stark genug sei, solche Rückschläge zu verkraften, habe sich nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin 1995 gezeigt.
Für den Gemeindeältesten der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Isaak Behar, ist Scharons politischer Tod eine Katastrophe. „Er hat seine Politik gegen Teile der jüdischen Bevölkerung durchgesetzt, was ich für sehr mutig halte.“ Dies habe sich, so Behar, am deutlichsten in der Räumung des Gaza-Streifens gezeigt. Erst habe man Scharon als Hardliner verteufelt, „heute vermisst man ihn“.
Jetzt werden die politischen Karten neu gemischt. Seit Donnerstag leitet Ehud Olmert als stellvertretender Ministerpräsident vorläufig die Regierungsgeschäfte in Israel. Olmert gilt als gemäßigter Politiker. Er tritt für einen Palästinenserstaat auf einem Teil des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens ein.
Der 60-Jährige wird auch schon als Nachfolger Scharons gehandelt. Doch dazu muss Olmert bei den Parlamentswahlen am 28. März erst mal einen Sieg einfahren – vorausgesetzt, die Kadima macht ihn zu ihrem Spitzenkandidaten. Noch liegt die von Scharon im November gegründete Partei in Umfragen vorn, aber ob sie ohne ihren Spitzenkopf weiterhin so gute Chancen hat, ist fraglich. „Olmert fehlt das Charisma. Er wird es schwer haben, in die großen Fußstapfen von Scharon zu treten“, meint Christian Böhme, Chefredakteur der Wochenzeitung Jüdische Allgemeine.
Von den Entwicklungen profitieren könnte vor allem Benjamin Netanjahu. Denn seine Likud-Partei wird nun wieder für solche Wähler attraktiv, die die Kadima wegen Scharon gewählt hätten. Sollte sich Netanjahu, der als politischer Hardliner gilt, tatsächlich durchsetzen, könnte der Friedensprozess in Gefahr geraten. „Allerdings kann auch Netanjahu nicht gänzlich hinter die Politik Scharons zurück“, meint Böhme, „schließlich wird diese auch von breiten Teilen der israelischen Gesellschaft unterstützt.“
Albert Meyer glaubt nicht an Netanjahu. „Er hat nicht die Persönlichkeit und die Ausstrahlung eines Ariel Scharon“, sagt der ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. Scharons Abtritt werde keine allzu großen Auswirkungen auf den Friedensprozess haben. „Ehud Olmert wird Scharons Weg weiterführen und die Wahl gewinnen“, ist sich der Anwalt sicher.
Die Jüdische Gemeinde in Berlin will sich zu dem Todeskampf Scharons nicht äußern. „Schließlich lebt er noch“, betont ein Sprecher der Gemeinde. Beim heutigen Schabbath-Gottesdienst werden die Rabbiner Ariel Scharon in ihre Gebete aufnehmen. Aber über eventuelle politische Nachfolger will hier noch keiner spekulieren – zumindest nicht öffentlich.