Morbus Pop

Homers Odyssee als zitatenreiche Irrfahrt durch die Pop-Geschichte: Igor Bauersima inszeniert mit „Oh die See“ ein Musical am Deutschen Schauspielhaus Hamburg

Falsche Erwartungen können am Theater tödlich sein. Da wird eine moderne Version der Odyssee angekündigt, Homers Gesänge als Rock-Musical. Ein inhaltsreicher und ergiebiger Stoff. Man denkt an ein ästhetisch-intellektuelles Musical-Konzept, das auch die Ansprüche des seriösen Sprechtheaters erfüllt. Das Fernsehen berichtet, Hoffnung auf Großes liegt in der Luft.

Dann steht Hugo alias Odysseus auf der Bühne: ein junger Slacker mit Gitarre, der sich Ärger mit Drogendealern, Barsängerinnen und Mossad-Agenten einhandelt. Ein Pop-Traum für alle 16-Jährigen, aber ein Albtraum für das gesetztere hanseatische Premieren-Publikum, das den Regisseur am Ende ausbuht: „Geh doch nach Hause!“

So viel Hiebe hatte der Abend auch wieder nicht verdient. Aber die Gemüter sind in Hamburg erhitzt, seit Schirmer den Intendantenstab von Tom Stromberg zwar mit deutlicher künstlerischer Abgrenzung übernahm, aber der viel beschworene Neuanfang auf der Bühne bisher wenig schöne Früchte getragen hat. Als bedeutendster Schritt gilt die Einrichtung eines Kinder- und Jugendtheaters im Malersaal. Dort, nicht im Großen Haus, wäre auch „Oh die See“ viel besser aufgehoben, das im Stil eines Alternativ-Rock-Musicals dem Odysseus als Bandleader nicht nur den Weg zur Popkultur öffnet, sondern das selbst einer nomadischen Irrfahrt durch dessen Geschichte gleicht.

Punk-Rock, Musical, Life-Konzert – alles drin und Filmzitate dazu. Penelope stolziert im Intro als Schattenriss vor einer blauen Leinwand, als würde ein James-Bond-Film beginnen. Ithaka ist eine Bar, der Heimathafen aller verkappten Musiker. Dort tritt Ehemann Hugo als Boygroup-Star auf, bevor er auf Reisen geht und Obermafioso Poseidon das Barleben bestimmt – ein Typ wie aus der Dreigroschenoper mit drei Uma-Thurman-Doubles als Begleitung.

Die extreme Stilvielfalt folgt dem Sample-Gedanken der Popmusik. Sie hat die Dramaturgie fest im Griff, was dem Timing vor allem des ersten Teils gar nicht bekommt. Das Warten der Penelope erfolgt im Schnelldurchlauf. Die See und die Sehnsucht werden besungen, was sich im Pop-Ambiente der Bühne aber alt anfühlt und eher in coolen Posen Ausdruck findet.

Dies ist ein Zeitstück, sagt Igor Bauersima, weil es ein Genrespiel ist mit einem Popstar als Helden, mit dem Pathos jugendlicher Aufbruchlust, viel Oberflächendesign und Hippie-Stimmung. Wenn retrospektiv Hugos Reise erzählt wird, sitzen er und seine Freunde auf marokkanischen Sitzkissen und rauchen Wasserpfeife. Je größer der Abstand zu einer Epoche wird, desto mehr tritt auch bei Bauersima das Parodistische hervor. Das ist gar kein so schlechter Zugriff, der sich aber leider viel zu oft in Kalauern und albernen Illustrationen auflöst – verhüllte Musliminnen auf Tretrollern etwa.

Wie gehabt inszeniert Bauersima seine Texte in Personalunion. Zusammen mit Efim Jourist hat er auch die 23 Songs komponiert: Pop mit Mitwipp-Potenzial, aber ohne Tiefgang. Als Regisseur gelingen ihm die besseren Momente des Abends. Schön, wie er mit Hilfe von Videoprojektionen mal eben einen Kreuzfahrtdampfer als Bühnenbild zaubert und unterschiedliche Erzählszenen nahtlos wie ein DJ verknüpft.

Daran liegt es also nicht, dass das Genrespiel am Ende doch Schiffbruch erleidet. Auch nicht daran, dass aus Homers reicher Vorlage vor allem die Begegnungen mit den Frauen dominieren. Der Grund ist eher, dass mit den Mitteln des Pop alles beliebig und austauschbar wird. Was dann nicht als Kritik, sondern als wenig durchdacht rüberkommt. Kirke ist ein Madonna-Verschnitt mit Cowboyhut und Jeans-Shorts. Die Nymphe Kalypso eine austauschbare Nachtklubsängerin und Nausikaa eine Kneipentochter im Ledermini. Alle drei verströmen verhurten Hafenkneipen-Charme und lassen wie auf Knopfdruck den Mann fallen, den sie eben noch halten wollten. Die hohe Kunst, jemanden wieder ziehen zu lassen, wäre ein Spiel in einer anderen Klasse. SIMONE KAEMPF