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Archiv-Artikel

Lucky Man

AUSTRALIEN OPEN Roger Federer siegt in Melbourne in einem mitreißenden Spiel. Der Schweizer Rekordmann kann seinen Triumphen immer noch eine Menge abgewinnen

AUS MELBOURNE DORIS HENKEL

Australien ist ein Land der harten Männer, die Krokodile fangen, Schlangen verjagen und Waldbrände löschen. Europäer dagegen sind selbst bei kleineren Herausforderungen schnell überfordert; gib ihnen ein kleines Tennisspiel, schon steigen ihnen Tränen in den Augen. Nein, diesmal war es nicht Roger Federer, der nach seinem vierten Titelgewinn am Sonntagabend in Melbourne um Fassung rang, sondern Andy Murray, der Herausforderer. Aber er schlug sich bei der Zeremonie ähnlich gut wie zuvor im Spiel, als er in einer Mischung aus Verlegenheit und Spontaneität meinte: „Weinen kann ich wie Roger – nur schade, dass ich nicht so spielen kann wie er.“ Aber das kann ja auch sonst keiner. Murray versuchte alles in den 2 Stunden und 41 Minuten der Partie unter dem nur halb geöffneten Dach. Am Nachmittag war die Temperatur in kurzer Zeit von 36 auf 21 Grad gesunken, ein paar Regentropfen waren gefallen, und erst wenige Minuten vor Spielbeginn war das Dach wieder geöffnet worden.

Die schnell ziehenden Wolken und die sich ständig ändernden Farben am Himmel boten einen stimmungsvollen Rahmen für ein hochinteressantes, spannendes Spiel mit taktischen Finessen und Ballwechseln voller Wendungen, die in den ersten beiden Sätzen in der Mehrzahl von Federer dominiert wurden. Als er nach anderthalb Stunden mit einem Volley den zweiten Satz für sich entschied, sah es so aus, als habe er sich den entscheidenden Vorteil verschafft, aber Murray rannte, schlug und kämpfte unverdrossen weiter. Er ging 5:2 in Führung, schlug bei 5:3 zum Satzgewinn auf, und Federer spürte, dass es in dieser Situation um mehr als nur den Verlust dieses Satzes ging. Er ließ in seiner Konzentration keine Sekunde nach, schnappte sich Murrays Aufschlag, glich wenig später zum 5:5 aus, und die Entscheidung im Satz wie im Spiel fiel im bewegten Tiebreak, der allein das Eintrittsgeld wert war mit fünf Satzbällen für den Schotten und drei Matchbällen für Federer.

Den zweiten vergab er auf eine Art, über die er bei aller Anspannung schließlich lachen musste, als Murray seinen Stoppball erlief, er einen Moment lang zögerte und dann den Schläger wegzog, weil er dachte, der Ball gehe aus. Doch beim dritten wenig später landete Murrays Rückhand im Netz, und Federer hatte seinen 16. Grand-Slam-Titel in der Tasche – und den ersten als Vater der vor gut einem halben Jahr geborenen Zwillinge Charlene und Myla. Er war extrem stolz auf sich, sprach von einem der besten Spiele seiner Karriere, wenn nicht dem besten, war aber auch voller Lob über Murrays Qualitäten, der gerade das zweiten Grand-Slam-Finale seiner Karriere verloren hatte. Er sei sicher, dass der in absehbarer Zeit den von ganz Britannien ersehnten Titel gewinnen werde, meinte er; Murray sei ein toller Spieler mit großartiger Beinarbeit, taktischem Geschick und allem, was sonst noch nötig sei. Und auch mit dessen Tränen auf dem Podium konnte er was anfangen: „Das zeigt doch, was ihm das Spiel bedeutet, und das ist immer schön zu sehen.“

Er sagt, die jüngeren Konkurrenten wie Murray hätten keinen geringen Anteil daran, dass auch er ständig besser werde. Und weitere Titel sammeln könne. Jahrelang hatte Pete Sampras’ Marke von 14 Grand-Slam-Titeln als Maß aller Dinge gegolten, doch diese Marke hatte er im vergangenen Jahr mit dem ersten Titel bei den French Open in Paris erreicht. „In dieser Richtung habe ich keine Ziele mehr. Wenn ich weitere kriege – okay, dann nehme ich die. Aber ich sehe Tennis inzwischen anders. Wenn es morgen damit vorbei wäre, dann wäre ich immer noch ein glücklicher Mann.“ In Stunden wie diesen wird gern nach dem Geheimnis des Erfolges gefragt, und darauf gab er eine Antwort, die in ihrer Kürze doch komplett und umfassend war. „Ich wusste immer, dass ich das Händchen dafür habe. Die Frage war nur, ob ich auch was im Kopf und in den Beinen hab.“