LESERINNENBRIEFE
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„Schere“ vergrößert sich weiter

■ betr.: „Beschäftigte legen die Arbeit nieder“, taz vom 3. 5. 13

Bei den Lohnverhandlungen in diesen Wochen um den Tag der Arbeit wird traditionell wieder über prozentuale Lohnzuwächse verhandelt. Nur selten taucht mal eine gewerkschaftliche Forderung auf wie: „Mindestens aber 140 Euro“, oder: „Mit einer Einmalzahlung von 120 Euro“. Warum fällt den Verantwortlichen nicht auf, dass mit prozentualen Lohnzuwächsen die besser Verdienenden zusätzlich bevorteilt werden? Warum wird der Blick nicht auf die banale Tatsache gerichtet, dass Preissteigerungen etwa bei Energie oder Lebensmitteln alle Bürger in gleicher nominaler Höhe betreffen, ja die Ärmeren – relativ betrachtet – sogar härter? Warum sollten sich Lohnerhöhungen wie bisher auf den Ausgangsverdienst beziehen und nicht auf realwirtschaftliche Aspekte? Solange sich Lohnzuwächse nicht in absoluten Zahlen (monatlich 100 Euro mehr) ausdrücken wie beim Kampf um einen höheren Mindestlohn, müssen sich die Gewerkschaften und Parteien den Vorwurf gefallen lassen, in skandalöser Weise die „Schere“ weiter zu vergrößern. ORTWIN MUSALL, Rotenburg/Wümme

Keine „Rechtfertigungsliteratur“

■ betr.: „Der Hypnose erlegen“, taz vom 29. 4. 13

Wer ist hier eigentlich „der Hypnose erlegen“? Die Zeit-Autorin Heike Faller hat einen Teil des Lebenswegs eines jungen Menschen dokumentiert, der gegen eine sexuelle Neigung ankämpft, die er sich ganz sicher nicht ausgesucht hat und gegen die er sein ganzes Leben wird ankämpfen müssen und wofür er sich bei Psychologen Hilfe erbeten hat. Angesichts dieses Dilemmas ist es wohl schon angezeigt, für ihn eine gewisse Empathie zu empfinden, denn ein normales Leben wird er nie führen können.

Christian Füller müsste wissen, dass der junge Mann keine Straftat begangen hat. Und damit das so bleibt, machte er die Therapie, um sein Leben in den Griff zu bekommen. Daher ist es völlig unverständlich, warum Herr Füller über die Opfer von Missbrauch schreibt, dies hat doch mit dem Artikel von Frau Faller rein gar nichts zu tun. Dieser Artikel ist auch kein Prototyp einer „Rechtfertigungsliteratur“, wie Herr Füller meint, und einen „Skandal“ kann ich darin auch nicht erkennen. Solche Themen sollte man eher sine ira et studio – wie der Lateiner sagt – behandeln. Die Anfeindungen gegen Dany Cohn-Bendit sind noch nicht vergessen.

HELGA SCHNEIDER-LUDORFF, OBERURSEL

Wann ist Verständnis angebracht?

■ betr.: „Der Hypnose erlegen“, taz vom 29. 4. 13

Füller zitiert die Jury mit den Worten, ein Leser des von ihr ausgezeichneten Artikels könnte vielleicht irgendwann „so etwas wie Verständnis empfinden“. Füller legt der Jury „Verständnis für die vermeintliche Ausweglosigkeit des Triebs bei Pädophilen“ zur Last und beklagt, es würde „Empathie für einen Pädophilen“ ausgezeichnet. Und die üblich verdächtigen 68er kriegen ihr Fett weg, haben sie doch „die sexuelle Befreiung der Kinder direkt auf ihr eigenes Genital“ gelenkt. Schön wäre es gewesen, hätte Füller die Frage gestellt, wann im Falle von Pädophilie denn eigentlich Verständnis angebracht sein mag und wann nicht. „Verständnis für die Ausweglosigkeit des Triebs“ wäre ebenso Unsinn wie ihr Gegenteil, weil ihr Trieb für pädophil orientierte Menschen ein ebenso blankes und schlicht vorgefundenes Faktum ist wie ein anderer Trieb für anders orientierte Menschen. „Verständnis für pädophile Handlungen“ kann und darf es nicht geben; es gibt sie zum Beispiel ganz klar dort nicht, wo mit diesen Menschen therapeutisch gearbeitet wird. Was es allerdings geben darf, ist Verständnis für einen Menschen, der mit dieser sexuellen Ausrichtung geschlagen ist, der weiß und anerkennt, dass deren Ausleben eine schwere Schädigung der betroffenen Kinder und Jugendlichen wäre und nach Gesetz und Sitte strafwürdig ist, und der ernsthaft und aufrichtig daran arbeitet, dass es nicht zu pädosexuellen Handlungen kommt. Der Artikel erweckt nicht den Eindruck, als wäre Füller an Differenzierung und Klärung interessiert. Seine Erregungsproduktion funktioniert gerade deshalb, weil er sie unterlässt, das heißt, die Menge des von Füller produzierten moralischen Abscheus verhält sich umgekehrt proportional zum Ausmaß der gedanklichen und begrifflichen Klarheit, die er investiert.

NIKOLAUS ERICHSEN, Bonn