BERLINER ÖKONOMIE 
: Die Berlinose-Symptomatik

Mach doch mal so etwas wie der Lottmann! Die Berliner Boheme übt mit Besserwissen weiter den Existenzkampf

„Ganz fantastisch – noch besser wäre kaum zu ertragen“, pflegt mein Freund und Anwalt Baron von Münchhausen zu sagen, wenn man sich nach dem werten Befinden erkundigt. Kurz darauf philosophiert er meist über den „gnadenlosen Existenzkampf“, der auch ihn und seine Standesgenossen ereilt habe. Und der nimmt in der Hauptstadt der Hungerleider, Hochstapler und sonstigen Wiedergänger aus dem Arsenal der klassischen Boheme bisweilen fantastische Züge an.

Unlängst ließ beispielsweise die erste Rate eines öffentlich-rechtlichen Hörspielhonorars (Thema: Prekarisierung, Bastelexistenz und das fragwürdige Glück der Gemeinschaft) etwas länger auf sich warten – und dann wollte auch das Finanzamt Prenzlauer Berg/Friedrichshain auf einmal das Geld ein Jahr früher sehen. Um von der Mieterhöhung gar nicht zu reden.

Es war also höchste Zeit, ein paar Euronen für ein Feuilleton von irgendeinem Blatt zu ergattern und einen Artikel über eine so interessante Ausstellung wie „Wittgenstein in New York – Stadt und Architektur in der Zeitgenössischen Kunst seit 1965“ im Kupferstichkabinett zu veröffentlichen. Doch an einem Montag war und ist Kunst sogar in Berlin geschlossen, weswegen der Tag mit einem Lunch in der Kantine des Landesarbeitsgerichts weiterging. Berlin Tiergarten – ein Ort, an dem man das Elend der Welt nicht nur sieht, sondern auch schmeckt.

Sichtlich um Anteilnahme bemüht, erkundigte sich meine Bergedorfer Bekannte, die in einem nahe gelegenen Jura-Verlag schuftet, zwischen zwei Bissen Tofu-Bratling, warum es denn eigentlich mit der Karriere nichts geworden sei. Eine Frage, die ich öfter höre, mal mehr, mal weniger intelligent gestellt. Holger Schulze, Kulturtheoretiker an der UdK und Friedrichshainer Kiezkollege, den ich immer mal wieder auf dem Wochenmarkt auf dem Boxhagener Platz beim Wursteinkauf entdecke, sagt immer: „Ja, mach doch mal was wie dieser Lottmann.“

Ignoriert wird dabei nicht nur die für so eine Karriere im Medienzirkus nötige Bereitschaft, sich auf ein möglichst griffiges Image runterbrechen zu lassen und, wie es dem FAZ-Fachmann für Heavy Metal passiert ist, im N-tv-Online-Auftritt hinterhergeworfen zu bekommen, dass man „Kult“ sei. Eine erhebliche Rolle spielen als Zugangsvoraussetzung zu allem, was Geld bringt und trotzdem Spaß macht, auch Faktoren wie Adel, Beziehungen, Geld, Hochschulstudium und iBook. Dazu ist auch ein Wohnsitz in Berlin-Mitte wichtig, wo der Legende nach über Nacht Leute vom „Hackbarths“-Kellner zum Szene-Galeristen und vom Straßenmusiker zum Kitty-Yo-Star werden.

Ohne all das und mit einer maximal mittleren Befähigung ist es heute schon zufrieden stellend, wenigstens noch im erlernten Beruf und nicht etwa im Arbeitslager zu arbeiten. Das klingt zwar drastisch, beschreibt aber ganz gut, was neulich einem Kollegen passiert ist, der etwas zu lange arbeitslos war. Schwupp fand er sich auf einem Acker südlich von Berlin wieder, um dort unter der Aufsicht eines in Öko und Eso gewickelten Kommandanten seine Arbeitswilligkeit prüfen zu lassen.

Selbst der Stolz, sich trotz mancher Widrigkeiten durchgewurschtelt zu haben, strickt natürlich keine neuen Pullover – weswegen die Freude, kurze Zeit später im Café Einstein eine exilrussische Bekannte aus Connecticut zu treffen, für die ich bisweilen als Literaturagentendarsteller tätig bin, kaum noch fassbar war: Mit dabei hatte sie eine ziemlich pralle KaDeWe-Tüte, in der sich unter anderem mein neuer Lieblingspulli befand.

Noch schöner als die mitgebrachten Sachen und beinahe so schön wie die Dame selbst waren allerdings die neuen Geschichten, die sie von ihrer Berliner Verwandtschaft mitgebracht hatte: So hat ihr Cousin, der gelegentlich auf Sat.1 einen „Computersicherheitsexperten“ oder „Superhacker“ darstellt und später mal Molekularbiologe werden will, immer noch kein Abitur, aber trotzdem schon ausgesorgt: Sein Hanf-Fachbuch ist in den entsprechenden Kreisen ein Renner.

Es ist eben nicht so, dass in Berlin überhaupt kein Geld verdient werden würde – fraglich bis fragwürdig ist nur, womit und was dann damit passiert. Aufs Sparkonto kommt es jedenfalls nicht. Die ganzen Leute, die einen mehr oder weniger gratis mit Dienstleistungen, Räumen, Informationen und osteuropäischen Schokoladenspezialitäten versorgen, wollen zumindest symbolisch entschädigt werden.

Das, was da also manchmal noch wie ein hauptstädtisch-elefantöses Getöse klingt, ist also eigentlich nur das hunderttausendfache Rauschen eines Ameisenhandels, der sich zwar durch eine Vielzahl von Transaktionen auszeichnet, aber doch über ein sehr geringes Volumen verfügt.

Von der neulich in der Vogue treffend als „Berlinose“ bezeichneten Symptomatik, ausgerechnet in Berlin, dem „dunklen Atlantis der Moderne“ (Mike Davis), das „existenzielle Besserwissen“ (Diedrich Diederichsen) zur Vollzeitarbeit zur machen, sind jedoch nicht nur die Ex-Models aller Länder befallen, die nun immer in Reichweite der nächsten Macchiato-Tanke fleißig Romane über Stricherkarrieren im New York der Achtzigerjahre in ihren Laptop hacken. Auch mein grundsolider Rechtsberater hat sich heimlich auf die Seite des Künstlervolks geschlagen und einen Roman über Grillen in Detmold geschrieben. Er ist bestimmt ganz fantastisch geworden. GUNNAR LÜTZOW