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Archiv-Artikel

Recht auf gebrochene Knochen

GLEICHSTELLUNG 300 Menschen demonstrieren beim Aktionstag „Ich bin entscheidend“ vor dem Brandenburger Tor für ein selbstbestimmtes Leben von Behinderten

Behinderte seien fremdbestimmt – durch diejenigen, die zahlen

VON CHRISTIAN OTT

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war eingeladen, kam aber nicht, auch keiner ihrer Stellvertreter. „Wie schon letztes Jahr und in dem Jahr davor“, sagt Ilja Seifert. Der 62-Jährige sitzt seit 46 Jahren im Rollstuhl, seit 1990 ist er Bundestagsabgeordneter. Jetzt spricht der Linke-Politiker auf einer kleinen Bühne vor dem Bundeskanzleramt. Seifert eröffnet den Europäischen Protesttag „Ich bin entscheidend“ in seiner Funktion als Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbands in Deutschland. Der Einladung vom Berliner Behindertenverband (BBV), Sozialverband Deutschland (SoVD LV Berlin-Brandenburg), der Bundesinitiative „Daheim statt Heim“ und knapp 20 weiterer Verbände waren am Samstagvormittag gut 300 Menschen gefolgt. Eine bunte Versammlung, wie sie im Straßenbild sonst nie zu sehen ist: Viele Rollstuhlfahrer, andere mit einem Blindenstock, an Händen oder Beinen verkrüppelt oder ungewöhnlich gestikulierend, weil sie sich in Gebärdensprache unterhalten.

Der Demonstrationszug geht am Reichstag und Unter den Linden vorbei bis zum Brandenburger Tor. Dort sind mittags bei schönstem Wetter sehr viele Touristen unterwegs. Etwas weiter, auf der Straße des 17. Juni, startet bald der Frauenlauf. Viele grübeln über die Protestschilder: „Ich fühle mich unsichtbar“ – „Nicht nur bei uns sparen“ – „Sanktionen gegen Barrieren“.

In vielen Bussen und Bahnen gebe es keinen Platz, bei Banken keinen Kredit, bei Wohnungen keine Barrierefreiheit, macht die Bundesvorsitzende der Initiative „Daheim statt Heim“, Silvia Schmidt, deutlich.

Deutschland ist 2008 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen beigetreten. Doch von einem selbstbestimmten Leben sei der Alltag vieler Behinderter weit entfernt, meint die BBV-Vorsitzende Bärbel Reichelt, eine der rund ein Dutzend RednerInnen, die die Alltagsprobleme von Menschen mit Behinderung auf den Punkt bringen. Jeder Mensch könne selbst an Theater, Kino und Sport teilnehmen, ob als Zuschauer oder als Aktiver. Nur Behinderte hätten diese Wahl oft nicht. Rollstuhlfahrerin Reichelt erklärt, sie könne nicht einfach einen Facharzt wählen, „sondern ich muss zuerst darauf achten, ob der Zugang zur Praxis behindertengerecht ist und ob es dort eine Toilette gibt“. Jeder Mensch habe die Freiheit, sich bei einer Extremsportart die Knochen zu brechen. „Bei Rollstuhlfahrern heißt es immer gleich: Das und das kannst du nicht machen, das ist zu gefährlich!“ Behinderte seien fremdbestimmt durch diejenigen, die zahlen, so Reichelt.

Dass die Hoffnung der Organisatoren der Veranstaltung in Richtung eines Regierungswechsels nach der Bundestagswahl im September geht, wird deutlich, als zum Schluss das Zugpferd der Linken, Gregor Gysi, fünf Minuten lang die Bühne für sich bekommt. Für Normalos sei Inklusion ein Lernprozess, sagt Gysi. „Da hat mir mein Bundestagskollege Ilja Seifert viel beigebracht. Zum Beispiel, als wir gemeinsam eine Party hatten an einem Ort, der für ihn als Rollstuhlfahrer nicht erreichbar war.“

Eine gute Veranstaltung, lautet nach drei Stunden das Fazit von Gabi Göpsel. Sie hatte sich selbstbewusst vom Rollstuhl aus bei der Diskussion mit den Politikern durch kritische Kommentare hervorgetan. „Aber es hätten viel mehr Menschen kommen sollen, behinderte und nichtbehinderte!“