: Alles Traumvorgänge
DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY
In großen Flocken rieselt der Schnee und pudert draußen alles ein. Die Autos, die Pflastersteine, die steilen Dächer der niedrigen Häuser in Potsdams Holländerviertel – bald sind sie alle weiß. Mein Gegenüber hebt mit ihrem Löffel einen großen Klecks Schlagsahne aus der kleinen Schüssel auf dem silbernen Tablett. Jetzt ist ihr Kakao auch weiß. Der graue Tag ist zu dunkler Nacht geworden. Langsam trocknen die Schuhe, werden die Füße wieder warm. Am Nebentisch sitzt ein Paar mit einem kleinen Kind und zwei großen Hunden. Die Eltern trinken Kaffee, der kleine Junge eine Limonade. Einer der Hunde hat sich neben unseren Tisch gelegt, sein Blick fixiert den Kücheneingang hinter meinem Rücken. Das Licht in dem kleinen Raum ist gedämpft, hell leuchtet allein die große Vitrine mit den Torten und Trüffeln. Zitty, Berliner Stadtmagazin, 1/2006
Seit wir in den großen Städten hausen; seit Elektrizität die kleinen Städte und die Dörfer und die Landschaft ebenso mit Licht und Wärme versorgt; seit die Lebensmittelproduktion unabhängig von Frühling, Sommer, Herbst und Winter abrollt und uns sogar im Dezember mit Südfrüchten versorgt – seitdem kann man meinen, die Jahreszeiten seien ohne speziellen Einfluss auf das politische und gesellschaftliche und persönliche Dasein. Wer Weihnachten unbedingt bei Sommerwetter zu verbringen wünschte, reiste halt auf die Südhalbkugel.
Zugleich fragt man sich, ob nicht überall die Reste einer Lebensweise herumliegen, in der alles vom Sonnenzyklus abhing, Reste, die still und effektiv wirken, ohne dass man’s richtig bemerkt. So erklärte neulich eine Künstlerin, als man sie nach ihrem liebsten Ort in der Stadt fragte: Das Bett. Und ich kenne mehrere Leute, die ihr tägliches Schlafquantum ausdehnen, so weit es irgend geht. Abends früh mit dem Schlafen anfangen, morgens spät raus, und mittags ein gewichtiges Essen, das beruhigt und bettschwer macht. Erstaunlich, was sich in der Waagerechten noch alles wegarbeiten lässt, verlangsamt zwar, aber ergebnisreich. Des Weiteren soll es zu Alkoholmissbrauch kommen; in der Dunkelheit von Tag und Nacht sieht’s doch eh keiner.
Seit Jahren geistern durch die Wissenschaftsseiten der Zeitungen Hypothesen, denen zufolge die Depression, die den zivilisierten Bürger in unseren Gegenden so häufig überschattet, eine Art inneren Winterschlaf darstellt; ab November ziehen wir uns in unsere Höhlen zurück, um Ende März wieder im Freien aufzutauchen und fröhlich in das neue Licht zu blinzeln.
In Skandinavien pflegt sich, wer allzu sehr unter seiner Winterdepression leidet, Lichtduschen von unterschiedlicher Intensität auszusetzen. Die Dunkelheit auf der Nordhalbkugel wirkt pathogen. In diesem Sinn berichten frühe Forschungsreisende sogar von den Schlittenhunden, dass sie, wenn die Polarnacht einsetzt, rappelig, ja suizidal werden. Wenn wir innerlich um fünf Uhr nachmittags ins Bett gehen, massenhaft, um Winterschlaf zu halten, dann betrifft das auch die äußeren Zeitläufte und ihre Wahrnehmung, das politische, ökonomische und kulturelle Geschehen.
So scheint irgendwie spurlos verlaufen zu sein, dass ein Regierungswechsel stattfand. Die Zeitungen wussten in ihren Leitartikeln anfangs, dass der Start der neuen Regierungschefin sich unspektakulär bis misslungen gestaltet habe – aber das sagten sie ohne die Aufregung, die normalerweise einen Regierungswechsel begleitet; hohe Erwartung oder tiefe Enttäuschung muss man da äußern, sonst bleibt das Ereignis einfach zu schwach markiert. Dann, nach den ersten Wochen Regierungszeit, erwies sich die Bundeskanzlerin als großer Erfolg – was freilich so gedämpft geäußert wurde, als wolle man sich bloß ungestört im Bett herumdrehen.
Denn jetzt schien überhaupt die Aufmerksamkeit auszufallen, als könnten die Beobachter sich schlechterdings nicht aufrappeln. Klar, alles scheint unter einem Grauschleier zu liegen, weil die große Koalition die prägnante Oppositionspartei ausschaltet, die den Beobachtern die himmelschreienden Fehler der neuen Regierung laut und dramatisch vorrechnet. Stattdessen wurden wir lange mit den Fehlern der alten Regierung beschäftigt, die illegalen Aktivitäten der CIA in Deutschland, das Engagement von Gerhard Schröder für die russische Pipeline – alles Geschehnisse aus der Zeit, bevor der Winterschlaf begann, und längst wieder vergessen.
Der Empörung misslang es schon damals, uns aufzuwecken; kein Leitartikler oder Leserbriefschreiber verwandelte sich so richtig in einen rappeligen Polarhund. Den Ärger über das, was George W. Bush und der Große Satan hinter dem Horizont anrichtet, heben wir uns für später auf. Allenfalls erzeugten Susanne Osthoff und Jürgen Chrobog (samt Familie) eine gewisse Erregung. Hätten sie nicht im Lande und unsichtbar bleiben können, statt uns mit ihrer Entführung zu behelligen und Empörungsmengen abzufordern?
Die Stimmung in der Bevölkerung, sagen die Umfragen, gestaltete sich nach dem Regierungswechsel gedämpft bis pessimistisch. So fühlte sie sich schon vorher an – wie gesagt, niemand nahm den Wechsel richtig wahr. Die Stimmung in der Geschäftswelt, hieß es zunächst, sinke weiter ab. Dann soll sich das innere Wetter leicht aufgehellt haben – alles Traumvorgänge, denkt man unwillkürlich. Die Klausurtagung, zu der sich das Bundeskabinett jetzt ins brandenburgische Genshagen begeben hat, passt genau ins Gesamtbild; die Bilder des Schlösschens machten einen heimeligen Eindruck; das dämpft von selber die Stimmen, die sich erheben wollen. Viele sind es ohnedies nicht. Die anderen haben Mühe, die Augen offen zu halten; denn hier winterschläft sich’s gut über den großen Projekten, die Deutschland endlich nach vorn bringen sollen.
Auch in anderen Subsystemen blieben Ereignisse aus, die sie tüchtig in Schwingung hätten versetzen können. Kein Theaterwunder wird von den Kritikern gemeldet, so dass der Publikumsstrom einsetzte. Keine Neuerscheinung zwang in Scharen den jungen Menschen, den Roman demonstrativ in den elegant ausgeleuchteten Bars zu lesen, während draußen in der Dunkelheit der Schnee rieselt.
Was man mit dem Computer für Filmbilder zaubern kann, wissen die Kinogeher schon längere Zeit, weshalb King Kong zwar Äußerungen des Respekts, aber keine der Begeisterung hervorrief. Dass irgendein Ostberlin-Film mal wieder Frauen hübsch beim Leiden und Faseln vorführt, können wir auf sich beruhen lassen; er spielt ja im Sommer. An der Popmusik-Front kenne ich mich nur schlecht aus, aber das Echo eines neuen Superstars wäre gewiss zu mir gelangt. Und dabei steht uns die härteste Zeit, Januar bis März, wenn das Licht nur so langsam zur Rückkehr sich entschließt, noch bevor.
Was nützlich wäre: wenn jemand ein paar Lebenstechniken erfände, wie man das Dasein in den Höhlen halbwegs fruchtbar machen könnte. Statt bloß gut zu essen und zu trinken, Romane zu lesen und viel zu viel zu schlafen. Wenigstens ein paar Vorschläge für aufregende Träume.