: „Armut benachteiligt“
Nur vier Prozent der armen Kinder gehen aufs Gymnasium, stellt eine Studie der Arbeiterwohlfahrt fest. Mehr Förderung schon im Vorschulalter fordert daher AWO-Bezirksvorsitzender Paul Saatkamp
INTERVIEW: BRIGITTE SCHUMANN
taz: Herr Saatkamp, welche Unterschiede im Bildungsverlauf von armen und nicht-armen Grundschulkindern hat ihre AWO-ISS-Studie aufgedeckt?
Paul Saatkamp: Armen Kindern bleiben erfolgreiche Bildungswege weitgehend verschlossen. Jedes dritte in Armut lebende Kind bleibt schon in der Grundschule sitzen und nur vier Prozent der armen Kinder erreichen das Gymnasium!
Arme Kinder sind nicht „dümmer“. Warum schneiden sie schlechter ab?
Der Bildungshintergrund der Eltern bestimmt die Bildungserwartungen und die Wahl des Schultyps. Da sich Armut in der Regel in bildungsfernen Schichten ballt, besteht hier ein unübersehbarer Zusammenhang. In ihren Schullaufbahn-Empfehlungen orientieren sich Lehrer zu sehr an den sozialen Voraussetzungen der Kinder.
Seit der jüngsten PISA-Studie wissen wir, dass selbst bei gleich gutem Bildungsniveau der Mütter nicht-arme Kinder eine viermal größere Chance haben als arme, eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen. Warum?
Vergleichbares Bildungsniveau bedeutet nicht gleiche Bildungswirklichkeit. In armen Elternhäusern fehlt es oft an geeigneten Hilfsmitteln, aber auch an Unterstützung durch soziale Beziehungen, von räumlicher Enge und anderen Belastungen gar nicht zu sprechen. Die Schule bewertet elterliches Engagement positiv. Arme Eltern können sich aber im Gegensatz zu wohlhabenden Eltern meistens nicht so stark für schulische Angelegenheiten engagieren. Die positive Sicht der Schule auf engagierte Eltern hat dann einen Doppeleffekt: Ihre Kinder erhalten im Schnitt nicht nur bessere Noten, sondern wechseln – sogar unabhängig von den Noten – auch auf bessere Schulen.
Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Planung der Landesregierung, die Grundschulbezirke aufzuheben?
Als katastrophal, wie das gesamte kinder-und jugendpolitische Sparpaket der Landesregierung. Schon im Grundschulbereich, der ja bisher als einziger eine Schichten übergreifende Sozialisation möglich macht, werden wir demnächst die Spaltung der Gesellschaft einläuten. Die Wahl- und Ausweichmöglichkeit mobiler und wohlhabender Eltern wird zusammen mit der angedachten Prämierung leistungsstarker Grundschulen dazu führen, dass sie in „Eliteschulen“ und „Problemschulen“ auseinander driften.
Die Landesregierung will Eltern das Recht auf freie Schulwahl nach der Grundschule nehmen. Ist das ein Schritt zu mehr Chancengleichheit für arme Kinder?
Hier erwarte ich keine besondere Auswirkung auf arme Kinder. Arme Eltern haben bisher schon in weit höherem Maße die Empfehlungen der Schule akzeptiert als die nicht-armen. Viel schlimmer finde ich die von der Landeregierung geplante Erschwerung eines späteren Übergangs von der Hauptschule oder Realschule auf das Gymnasium.
Welche Empfehlungen zur Veränderung des Bildungssystems geben Sie der Landesregierung?
Die Benachteiligung armer Kinder darf nicht als von Gott gegeben hingenommen werden. Die Weichen für einen Chancenausgleich müssen bereits im Vorschulalter gestellt werden. Die selektive Ausrichtung der Schule muss überwunden werden: Jugendhilfe und Schule müssen unter Einbeziehung weiterer außerschulischer Partner einen kooperativen Ansatz zur ganzheitlichen Förderung entwickeln. Im übrigen halte ich an der Forderung nach einer neunjährigen gemeinsamen Schulzeit in Form einer Ganztagsschule für Alle fest.