Ins Herz des Selbsthasses

„City of God“ war das Hollywoodticket des Filmregisseurs Fernando Meirelles. Nun machte er sich an John Le Carrés Roman „Der ewige Gärtner“ – mit einem Schuldkomplex gegenüber Afrika, wie er im westlichen Kinomainstream derzeit gängig ist

Diese Filme sagen weit mehr über den Westen selbst aus als über die spezifische Situation in AfrikaIdentifikationsfiguren wie Angelina Jolie oder Nick Nolte verkörpern die westliche Zerknirschung

VON ANDREAS BUSCHE

Kibera, so steht es im Presseheft zu Fernando Meirelles’ neuem Film „Der ewige Gärtner“, „ist eine unübersichtliche Shantytown, die sich auf eine Größe von etwa 600 Hektar verteilt und etwa 800.000 Menschen Unterschlupf bietet“. Im größten Slum Afrikas herrscht eine katastrophale Unterversorgung. Sanitäre Anlagen existieren nicht, die Abwässer werden aus den aus Müll errichteten Hütten direkt in die Straßengräben geleitet. Wasser- und Stromversorgung sind ebenfalls Fehlanzeige. Eine Eisenbahnstrecke teilt Kibera in zwei Hälften und stellt die einzige Verbindung ins nahe gelegene Nairobi, die Hauptstadt Kenias, dar. Doch die Mehrheit der in Kibera lebenden Menschen ist zu arm, um sich die Fahrt mit der Bahn leisten zu können. Zudem ist die Lebenserwartung in der Trabantenstadt nicht sehr hoch. Jeder sechste Kenianer ist HIV-positiv; Experten schätzen die Quote in Kibera noch höher ein.

Fernando Meirelles zeigte sich während der Dreharbeiten schockiert. „Man kann es fast nicht glauben. Aber ich würde sagen, dass Kibera tatsächlich noch schlimmer ist als die Favelas von Rio, wo wir ‚City of God‘ gedreht haben. Cesar Charlone [Meirelles’ Kameramann, d. Red.] und ich haben viel Zeit in den Favelas verbracht, und doch war Kibera ein echter Schock für uns. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, was unsere britische Crew gedacht haben muss. Die Armut war … ernüchternd.“

Meirelles hat mit seinen bisherigen Arbeiten, vor allem seiner ersten internationalen Produktion „City of God“, aber auch mit „Der ewige Gärtner“, einen speziellen Blick auf diese „ernüchternde“ Armut entwickelt. Der gefeierte „City of God“, Meirelles’ Visitenkarte für Hollywood, schilderte in einer verschachtelten, Scorsese-würdigen Erzählung über mehrere Jahrzehnte den Aufstieg einer Gruppe von Gettokids zu mächtigen Bandenbossen und deren Fall. Den sozialen Hintergrund dieser flashigen Gangstergeschichte lieferte die stetige Verelendung der brasilianischen Favelas.

Meirelles scheint sich mit „City of God“ tatsächlich als Experte für eine ganz bestimmte Art von „Gettofilmen“ empfohlen zu haben, und das nicht nur, weil er als Brasilianer selbst aus einem Land stammt, das von einer wachsenden Bevölkerungsarmut betroffen ist (Meirelles, nebenbei, ist ein Kind der Mittelschicht). „Der ewige Gärtner“ trägt deutlich seine kinematografische Handschrift. Der soziale Realismus ist seine Sache jedoch nicht, auch wenn die Mobilität von Charlones Kamera den Bildern eine dokumentarische Qualität unterstellt. Eine nervöse Unruhe bestimmt diese Bilder; die Kamera findet kaum die Zeit, einmal tiefschürfender zu beobachten. Expressive Nahaufnahmen verstärken den Eindruck von Ruhelosigkeit in Meirelles’ Inszenierung noch. Das Filmmaterial, das er beim Drehen verwendet, ist zudem „schnell“, was den Bildern scharfe Farbkontraste und den Farben eine hypernaturalistische Sättigung verleiht.

Für unsere von westlichen Bildmedien trainierten Augen sieht „Der ewige Gärtner“ – wie schon dessen Vorgänger – verdammt gut aus: stark saturierte Farben, Farbfilter, Jump-Cuts, körnige Bildstruktur. Diese Ästhetik der Dringlichkeit ist für die Darstellung humanitärer Katastrophen ebenso instrumental wie für ein hochkommerzielles Marketingprodukt wie ein Musikvideo, das allein die Funktion der raschen Umsatzsteigerung hat. Nicht ganz zufällig folgt diese Form der Inszenierung auch der inhärenten Logik von Benefiz-Spektakeln wie „Live 8“. In den letzten Jahren kam aus Hollywood nun eine ganze Reihe von Filmen, die sich mit Afrika auseinander setzen – „Black Hawk Down“, „Jenseits aller Grenzen“, „Tränen der Sonne“, „Hotel Ruanda“, „Die Dolmetscherin“, um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen. Sie haben alle mit ähnlichen ästhetischen wie politischen Indifferenzen zu kämpfen.

Meirelles’ „Der ewige Gärtner“, nach einem Roman von Thriller-Autor John Le Carré, ist ein exemplarischer Vertreter dieser Spezies von Filmen, die das Verhältnis der westlichen Industrienationen zu Afrika zu erklären versuchen – und wie üblich mehr über den Westen selbst sagen als über die spezifische Situation Afrikas. In „Der ewige Gärtner“ gibt es einen kurzen Moment, der dieses Verhältnis sehr schön kommentiert. Er passiert fast unmerklich durch eine geschmeidige Montage in der digitalen Domäne: Die Kamera schwenkt vom sauber manikürten Grün eines britischen Golf-Clubs in Nairobi übergangslos auf eine sich schier unendlich erstreckende Hüttensiedlung von Kibera. Die digitale Technik ist auch hier ein Segen: Sie kann spielerisch nicht zu überbrückende koloniale Gegensätze vereinen oder – wie im Angelina-Jolie-Vehikel „Jenseits aller Grenzen“ – die ausgestellte Massenarmut zu epischen Elendsornamenten überhöhen.

Le Carré hat sich in seinem Roman die Machenschaften der internationalen Pharmaindustrie in Afrika vorgenommen und beschreibt diese entlang der tragischen Liebesgeschichte des britischen Diplomaten Justin Quayle (Ralph Fiennes) und seiner Frau Tessa (Rachel Weisz), einer politischen Aktivistin. Wie schon in „City of God“ erzählt Meirelles seine Geschichte nicht linear, denn Tessa ist bereits tot, bevor der Film richtig angefangen hat; ermordet im kenianischen Niemandsland. Ein Verbrechen aus Leidenschaft, so die offizielle Version. Ihr enger Freund und Begleiter Arnold Bluhm (Hubert Koundé), der in Kibera eine Krankenstation leitet, ist verschwunden.

Die Nachricht vom Tod seiner Frau reißt Justin, einen von Natur aus passiven und wenig ambitionierten Staatsdiener, aus seiner Lethargie. Es sind zunächst die Gerüchte um eine Affäre mit dem Afrikaner Bluhm, die ihn zu Nachforschungen bewegen. Justin weiß im Grunde sehr wenig über seine Frau, die ihm in ihrer lebhaften Art immer etwas fremd geblieben ist. Erst ihr Tod gibt ihm die Möglichkeit, sich mit seiner Beziehung zu Tessa zum ersten Mal wirklich auseinander zu setzen. Und je näher er seiner Frau dabei kommt, je intensiver er sie auf seiner Reise in die Vergangenheit ein zweites Mal zu lieben beginnt, desto tiefer verstrickt er sich in eine internationale Verschwörung von Pharmaindustrie, kenianischer Regierung und seinem Arbeitgeber, der britischen High Commission, die sich stillschweigend darauf geeinigt haben, Kenia in ein Versuchslabor für ein neues experimentelles Medikament zu verwandeln, das im Erfolgsfall Milliardenprofite verspricht.

Mit seiner geopolitisch verzahnten und hochmoralischen Konstruktion reiht sich „Der ewige Gärtner“ nahtlos in das historische Kontinuum der (post-)kolonialen Erzähltradition ein. Zwei entscheidende Faktoren konstituieren in dieser Tradition das westliche Bild von der so genannten Dritten Welt: Die „koloniale Erfahrung“ wird, stellvertretend für die zumeist anonyme Bevölkerung, noch einmal durch den europäischen/amerikanischen Besucher durchlebt. Im Kontext eines westlichen Unterhaltungsprodukts mag dies noch als Konzessionsentscheidung verzeihlich sein. Sie bringt jedoch Probleme mit sich.

Dies wird besonders deutlich in Filmen wie „Tränen der Sonne“ (Bruce Willis rettet als Anführer einer Truppe von Elitesoldaten gegen den Befehl seiner Obersten 70 nigerianische Flüchtlinge und gibt dem Volk nebenbei seinen rechtmäßigen Thronfolger zurück) und „Black Hawk Down“, in denen humanitäre Hilfe nur noch auf taktische Kriegseinsätze (im Zusammenhang mit humanitären Einsätzen haben Schlagworte wie „ethnische Säuberung“, „Milizen“ oder „Warlords“ eine zentrale Funktion übernommen) reduziert wird. Wie die Junge Welt anlässlich von „Tränen der Sonne“ ganz richtig bemerkte, geht der humanitäre Blick im aktuellen Hollywoodfilm durch das Zielfernrohr oder aus dem Kampfhubschrauber. Ein militaristischer Ton bestimmt die Rhetorik humanitärer Hilfe.

Der zweite konstitutive Faktor der (post-)kolonialen Erzählung ist die Unterdrückung der historischen Zusammenhänge von kolonialer Geschichte und aktueller humanitärer Katastrophe. In „Hotel Ruanda“ wird die Vorgeschichte des ethnischen Konflikts in Ruanda, der belgische Machteinfluss auf die politischen Geschicke des Landes, in einem einzigen Satz – bezeichnenderweise an der Hotelbar – zusammengefasst. Dies ist besonders gravierend, da die kolonialen Strukturen in „Hotel Ruanda“ noch evident sind. Nur dank seines heißen Drahts ins belgische Hauptquartier seiner Hotelkette gelingt es Paul Rusesabagina (Don Cheadle), Zeit gegenüber den ruandischen Milizen herauszuschinden. Das Leben des Afrikaners hängt immer noch vom Gutdünken des (ehemaligen) Kolonialherren (in diesem Fall Jean Reno) ab.

Im Mainstreamkino hat sich in den vergangenen 15 Jahren ein Paradigmenwechsel vollzogen. In den Achtzigerjahren waren Kriegsreporterfilme und Politthriller das gängige Format, um kritisch über den Einfluss der westlichen Regierungen – meist die amerikanische – in „politisch instabilen“ Regionen zu erzählen („Under Fire“, „Killing Fields“, „Salvador“, „Missing“, Ein Jahr in der Hölle“). Das Stadium einer kritischen Reflexion der Folgen der westlichen Kolonialpolitik, wie sie etwa in der Videokunst – nicht zuletzt aufgrund der weniger hierarchischen Verteilung von Produktionsmitteln – längst Praxis ist, ist in den Neunzigern schlicht übersprungen wurden.

Heute ist in den westlichen Filmproduktionen dafür ein intuitiver Schuldaffekt zu beobachten. Im Kino verkörpern weiße Identifikationsfiguren wie Angelina Jolie oder Nick Nolte als zerknirschter Blauhelm-Kommandant in „Hotel Ruanda“ dieses schlechte Gewissen. Wenn Nolte Cheadles Charakter erklärt „Für die in der UN seid ihr noch weniger als Nigger – ihr seid Afrikaner“, spricht aus seiner Figur auch ein uneingestandener Selbsthass für die Vernachlässigung, der das Verhältnis des Westens zu Afrika weiter belastet.

Unser schlechtes Gewissen ist auch in „Der ewige Gärtner“ wohl gebettet. (Das deutsche Presseheft ist ein kleiner Wälzer von über 50 Seiten, der sich liest wie ein UN-Report zur Lage Afrikas.) Das Liebesdrama macht die humanitäre Katastrophe für Justin erst erfahrbar. Der defätistische Beamte („God has already left Africa“, sagt Bruce Willis in „Tränen der Sonne“ zu einem Priester) durchläuft seinen Prozess der Politisierung parallel zur Revitalisierung der eigenen Gefühlswelt. Doch muss man Meirelles auch zugute halten, dass Afrika für ihn kein abstraktes Endzeitszenario oder gar ein mythisches Anderes darstellt. Meirelles legt in „Der ewige Gärtner“ großen Wert auf akkurate Repräsentation ethnischer Identitäten und selbst geografische Charakteristika.

So fest Meirelles’ Film auch in überkommenen Erzähltraditionen verankert ist, so unmissverständlich positioniert sich „Der ewige Gärtner“ zur Situation Kenias und dem dortigen Einfluss der britischen Politik – interessanterweise ist der Film mit beträchtlichen Mitteln vom British Lottery Fund unterstützt worden, der auch eine potente Stiftung zum Schutze des britischen Kulturerbes ins Leben gerufen hat; das koloniale Erbe des Commonwealth ist nun in „Der ewige Gärtner“ zu bestaunen. Wie der Film engagiert vor Augen führt, hat die Hungerkatastrophe in Afrika nichts mit menschlichem Versagen zu tun; sie ist schlicht aus ökonomischen Erwägungen erwachsen und damit strukturell kapitalistisch bedingt. Den Zynismus dieser Weltordnung bringt ein Freund Justins im Film treffend auf den Punkt: „Es gibt keine Morde in Afrika. Nur bedauerliche Todesfälle.“