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Archiv-Artikel

Betr.: Frisch gescheitert

Die Angst vorm Scheitern herrscht nicht nur am Freitag, dem 13., und sie treibt auch nicht nur Abergläubische um. Trotzdem ist sie unnötig – dank Jürgen Stöhr: Der Philosoph betreibt in Rostock eine Agentur für gescheites Scheitern

von Dagmar Penzlin

„Was suchen Sie? ‘Ne Agentur für gescheites Scheitern? Ach, Sie wollen wohl zum Arbeitsamt?“ Mit spöttischem Gesichtsausdruck zieht der ältere Herr weiter. Es hat sich offenbar in der Rostocker Südstadt noch nicht herumgesprochen, welche neue, deutschlandweit einmalige Dienstleistung ein studierter Philosoph hier anbietet. Der Hauptbahnhof ist nur wenige Schritte entfernt, Plattenbauten bilden einen Halbkreis um das gesuchte Geschäftsgebäude. Im Erdgeschoss fällt aus den Fenstern eines Billig-Supermarktes grelles Licht in das Grau des Winternachmittages. Hinter einem Mauervorsprung stehen drei Männer mit Bierflaschen. Ein bullig aussehender Hund zerrt an seiner Leine, die an einem Drahtzaun befestigt ist. Da, das Agentur-Logo.

„Na, haben Sie mich leicht gefunden?“ Agentur-Inhaber Hans-Jürgen Stöhr lächelt freundlich, als er im ersten Stock die Tür seines kleinen, sehr aufgeräumten Büros öffnet: Zwei Schreibtische, zwei Telefone, Stühle, Grünpflanzen, an den Wänden Fotos von Mecklenburgischer Landschaft, in den Regalen Aktenordner, ein paar Bücher. Und Frösche. Keramikfrösche in allen Größen. „Die brauchten wir für eine Veranstaltungsreihe“, Stöhr grinst verschmitzt und schiebt einen Flyer über den Tisch. „Froschkönige küsst frau nicht!“, steht da in großen, schwarzen Buchstaben. Und etwas kleiner: „Vom Scheitern, Wandel und Neubeginn einer außergewöhnlichen Paarbeziehung“. Der bunte Flyer verspricht einen Infotainment-Abend mit Film-Vorführung, Musik, Märchenerzählung und psychologischer Interpretation, mit Gesprächen und Überraschungen.

Auch wenn die ersten Veranstaltungen sich um Beziehungsfragen drehen –Hans-Jürgen Stöhr möchte für alle Scheiternden ein offenes Ohr haben, sie beraten und an andere Fachleute weiterleiten. Vom Umgang mit Schulproblemen oder Mobbing am Arbeitsplatz bis hin zum Bewältigen einer Insolvenz – in Planung sind Seminare für verschiedene Zielgruppen, betreut von unterschiedlichen Experten.

Dem großen, schlanken Mittfünfziger mit dem graumelierten Vollbart geht es aber vor allem darum, eine konstruktive Grundhaltung zu vermitteln: „Gescheites Scheitern ist ein entwicklungsfähiges Scheitern, das positiv die Persönlichkeit herausfordert und wo auch Offenheit für einen neuen Weg da ist. Und deshalb auch gescheit im Sinne von klug, intelligent scheitern.“

Wenn Hans-Jürgen Stöhr übers Scheitern spricht, stellt er mit sonorer Stimme bedächtig die Sätze in den Raum. Man merkt, er hat viel über dieses Thema nachgedacht. Auch als Privatperson: „Ich habe zwei gescheiterte Ehen hinter mir. Inzwischen bin ich zum dritten Mal verheiratet. Und diese Ehe befindet sich im verflixten siebten Jahr. Da gibt es öfter kritische Situationen.“

Der Vater von drei erwachsenen Söhnen schweigt einen Moment. Dann wird er wieder allgemeiner: Der größte Feind des gescheiten Scheiterns ist nach seiner Erfahrung blinder Aktionismus. Und der ist oft zu beobachten: „Der Mensch versucht sich eben aus der schwierigen Situation mit allen Mitteln herauszumanövrieren, er denkt sich: ‚Irgendwie muss es doch noch weitergehen.‘ Das ist dieses klägliche Scheitern, denn kluges Scheitern heißt auch loszulassen, Abstriche zu machen von dem angestrebten Ziel, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, wann eine neue Orientierung angezeigt ist.“

Dass Stöhr mit den Wechselfällen des Lebens und der Geschichte umzugehen gelernt hat, zeigt seine eigene Biografie. Der gebürtige Mecklenburger machte noch zu DDR-Zeiten als Philosoph und Hochschullehrer Karriere. Innerhalb weniger Jahre habilitierte er sich auf dem Gebiet der Widerspruchsdialektik. Er leitete Forschungsgruppen, gab die Rostocker philosophischen Manuskripte heraus.

Schon mit 19 ist der ehrgeizige Offizierssohn in die SED eingetreten – „aus Überzeugung“, wie er selbst betont. In den achtziger Jahren geriet er zunehmend mit dem Politbüro in Konflikt: Er wollte in alle Richtungen denken dürfen. Die Wiedervereinigung 1990 hat Stöhr als Debakel erlebt. „Dass dieses Autoritäre verschwinden könnte, dass Demokratie und Mitbestimmung eher von unten heraus passiert – das waren die großen Hoffnungen, auf die ich selbst auch gesetzt habe. Die große Enttäuschung waren die letzten Volkskammerwahlen im März 1990. Da war mir klar: Jetzt werden wir angedockt. Und alle unsere Visionen, etwas Neues, etwas Eigenständiges zu machen, eine andere DDR zu machen, das war politisch gesehen ein Moment des Scheiterns. Das war für mich persönlich eine Tragik.“

Der Hochschullehrer und seine Kollegen mussten an der Rostocker Universität ihre Büros räumen für, wie Stöhr es formuliert, „West-Philosophen“. Der arbeitslose Denker absolvierte bald darauf in Kiel eine Management-Ausbildung für den Sozial- und Gesundheitsbereich. Dann wagte er den Sprung in die Selbstständigkeit: In Rostock hat der Ostsee-Liebhaber 1992 ein Institut für öko-soziales Management gegründet. Er berät Gesundheitseinrichtungen, vermittelt Fachkräfte. Das Geschäft läuft. Stöhr ist zufrieden mit seinem Weg nach der Wende. „Was meine eigenen Lebensumstände betrifft, habe ich aus dieser gesellschaftlichen Scheitern-Situation eine positive Energie gezogen.“

Mit fast missionarischem Eifer kommt der Rostocker auf sein Lieblingsthema zurück. Er will den Umgang mit Niederlagen enttabuisieren. Niemand soll sich länger für Pleiten schämen müssen. Deutschland habe da Nachholbedarf, man müsse sich nur den Umgang mit gescheiterten Existenzgründern anschauen, der Unternehmensberater mit der sorgfältig gebundenen Krawatte unterstreicht seine Worte mit kurzen, energischen Gesten. „In Amerika oder England ist es viel leichter, nach einer Insolvenz ein neues Unternehmen zu gründen. Dort sagt die Bank: Der oder die macht den Fehler nicht noch einmal.‘ Gescheiterte bekommen da eher Geld. In Deutschland ist das ganz anders. Da sind ja die Gescheiterten die Gebrandmarkten.“

Hans-Jürgen Stöhr sagt dieser Mentalität allein schon mit dem Werbeslogan für seine Agentur den Kampf an: „Scheitern ist menschlich und macht erfolgreich.“

Der Experte für Widerspruchsdialektik legt eine kleine Broschüre auf den Tisch. Auf den sechs sorgfältig gestalteten Seiten drängen sich Gedanken und Informationen zum Scheitern und zum Erfolgreich-Sein. Der Werbeslogan fehlt natürlich nicht, und da stehen Sätze wie: „Gescheites Scheitern ist eine erlernbare Kunst. Wer sie beherrscht, ist zufriedener und steigert seine Lebensqualität.“ Das Scheitern beherrschen. Wieder so ein Widerspruch. Stöhr schmunzelt wissend. „Mit Alltagsdenken kommt man beim Scheitern nicht weiter.“

Die Agentur für gescheites Scheitern im Internet: www.gescheit-es.de