Wie mir die Diagnose schadete

Nach dem Abi kam er in die Psychiatrie. Heute ist er 32 und lebt mit den Folgen

Neulich haben meine Freundin und ich alte Fotos angeschaut: ich mit 18 Jahren und mit 27 – vor und nach der Psychiatrie. Ich bin sehr früh von zu Hause ausgezogen und habe neben der Schule viel gejobbt – in dem Alter denkt man ja, man hätte unendliche Kraft. Wie heftig der Druck auf mir lastete, merkte ich erst, als ich mein Abi bestanden hatte. Die Anspannung fiel ab, ich hatte ein riesiges Gefühl von Freiheit.

In den folgenden Wochen habe ich kaum geschlafen, das Essen und Trinken vergessen. Alle dachten, ich sei auf Drogen, aber das war’s nicht. Eines Tages besuchte ich ehemalige Arbeitskollegen in einem Copyshop. Ich war völlig aufgedreht und habe die Leute genervt.

Obwohl der Laden schon zuhatte, blieb ich einfach sitzen, wollte plaudern und ließ mich nicht bewegen, zu gehen. Aggressiv war ich nicht, nur irgendwann reichte es meinen ehemaligen Kollegen, einer rief die Polizei.

Die Polizisten fanden meine Antworten wohl schräg, sie bestellten einen Krankenwagen. In der Klinik sprach ich mit einer Ärztin, eigentlich ganz ungezwungen. Doch als ich gehen wollte, hieß es, ich müsse bleiben, dann wurde ich an eine Liege geschnallt. Wochenlang wurde ich festgehalten. Die Medikamente waren so heftig, dass ich wie ein Zombie durch die Station schlurfte. Niemand hat das alles mit mir diskutiert. Die Diagnose erfuhr ich erst später: paranoide Schizophrenie.

Ich habe mich nicht verrückt gefühlt, aber eine Fehldiagnose ist schwer zu beweisen. Was normal und was krank ist, lässt sich nicht messen. Was mit mir passierte – die Fixierung, die Psychopharmaka, die ich per Tropf bekam –, war rechtens. Aber als ich nach vier Monaten entlassen wurde, hatte ich Angstzustände und Depressionen, ich dachte an Suizid. Statt 68 Kilo wog ich 107, wegen der Pillen.

Ein halbes Jahr lang habe ich mehr oder weniger im Bett gelegen. Zum Glück hielten einige Menschen zu mir, auch meine Mutter. Meine Diagnose wurde nie infrage gestellt, und wenn ich widersprach, wurde das auf die Krankheit geschoben: Schon klar, du bist eben schizophren und nicht einsichtig.

Jahre später sagte mir ein anderer Psychotherapeut, ich sei wahrscheinlich nie schizophren gewesen, sondern hätte wohl eine Manie gehabt. Zurzeit werde ich wegen einer Anpassungsstörung behandelt, dafür zahlt die Kasse gerade Therapiestunden. Die ursprüngliche Diagnose aber bleibt bis zum Lebensende in den Krankenakten.

Ich habe meinen Wohnort gewechselt, um neu anfangen zu können, denn in meinem alten Heimatort laufe ich mit dem Stempel herum, ich sei verrückt. Deshalb will ich meine Geschichte auch nur anonym erzählen. Noch immer nehme ich eine geringe Dosis Psychopharmaka. Mein Arzt sagt zwar, ich könne das lassen, aber wenn ich es versuche, habe ich Albträume, bin gereizt, merke es sogar in meiner Körperhaltung.

Früher dachte ich, aus mir würde so ein Workaholic – zwölf Stunden Arbeit am Tag, straffe Karriere. Aber statt zu studieren, machte ich eine Lehre und bin heute Bürokaufmann. Die Diagnose hat mein Leben verändert.

Das Protokoll hat Esther Geißlinger aufgezeichnet