zwischen den rillen
: Der Stillstand eingeschlafener Füße

Da geht noch was – drei Platten hat Ryan Adams in den letzten zehn Monaten gemacht. Doch nie klang er so verloren wie auf „29“

Nur eines macht Ryan Adams mit noch höherer Frequenz als Platten herausbringen: sich operieren lassen. Viermal kam er im vergangenen Jahr unters Messer wegen einer Zyste am Ohr. Das widerspenstige Geschwür sorgte für abgesagte Konzerte, hinderte ihn aber beileibe nicht daran, in kurzer Zeit gewohnt viele Alben zu veröffentlichen: „29“ ist nach „Jacksonville City Nights“ und „Cold Roses“, das auch noch als Doppel-CD daherkam, das dritte innerhalb von zehn Monaten.

Allerdings ist sich die Fachwelt weitgehend einig, dass in dieser Veröffentlichungsflut auch einige faule Äpfel versteckt sein müssen. Alle Akkordarbeiter, so wie momentan noch Conor Oberst, der Kopf hinter den Bright Eyes, werden erst für ihren scheinbar endlosen Schaffensdrang gelobt. Eine Weile werden sich noch gelitten und schließlich als Plappertaschen verdammt – Ryan Adams scheint seine Halbwertszeit gerade zu überschreiten. Kein Mensch, so die einhellige Meinung, kann jährlich drei Alben herausbringen, die allesamt was taugen.

Nun muss man sich in Adams Fall nur noch darauf einigen, welche der vielen Platten denn nichts taugen sollen. „29“ ist da eine guter Kandidat, nicht nur weil Adams das Album seiner überaus wuscheligen Malteserhündin Gracie gewidmet hat. Sie ist auch die einsamste und kaputteste Platte der drei und das lässt sich leicht als Symptom ästhetischer Überforderung hören. Wer so viel will, muss scheitern. Zumal er für „29“ seine Begleitband feuerte, die Cardinals, im Spiel waren gerüchteweise auch alkoholgetränkte Auseinandersetzungen, und die Stücke fast ausschließlich mit seinem Produzenten Ethan Johns und dem Gitarristen und einzigen Cardinals-Überlebenden J. P. Bowersock aufnahm.

Nun ist Adams’, längst Legende gewordener chamäleonhafter Charakter eigentlich schon immer eine Mogelpackung. Denn die einzelnen Alben unterscheiden sich meist nur graduell. Statt auf einer Platte sein komplettes musikalisches Spektrum zu durchschreiten, wechselt Adams oft nur das Subgenre im Spektrum zwischen Singer/Songwriter, Country und Americana und nimmt sortenreine Alben auf. Mit „Cold Roses“ kehrte er, der dereinst bei einer Band sang, die nicht umsonst Whiskeytown hieß, zu seinen Wurzeln im Alternative-Country zurück. Für „Jacksonville City Nights“ peppte er diesen eher kargen Sound mit Steel Guitar und der Gastsängerin Norah Jones zu nahezu klassischem Country mit Schmalzfaktor auf.

Auf „29“ klingt Adams, den Umständen angemessen, so disparat und verloren wie in diesem Jahr noch nichts. Meist steht die Stimme allein, nur begleitet von einem einsamen Instrument. Statt den Weg zu immer mehr Üppigkeit und Massenwirksamkeit weiterzugehen, arbeitet sich Adams nahezu im Alleingang an den grundsätzlichen Formen ab: Der Titelsong ist ein verklemmt zuckender Blues, der nie so richtig aus sich heraus kommt. Die darauf folgenden „Strawberry Wine“ und „Nightbirds“ sind Balladen an der Grenze zum Phantomschmerz, der Country-Twang von „Carolina Rain“ schmeckt nach eingeschlafenen Füßen und in „The Sadness“ wird einer TexMex-Nummer jede Lebenslust und Fröhlichkeit ausgetrieben. Adams geht den weiten, weiten Weg zurück, rührt in der Ursuppe, aber die ist zäh: Der Rhythmus, sowohl der musikalische als auch der emotionale, kommt nahezu zum Stillstand, das Tempo ist weitgehend verschlafen und die Atmosphäre durchgängig somnambul.

Genau die richtige Stimmung für einen Ausflug in die Tiefen des menschlichen Daseins. Zwar bezog sich „Jacksonville City Nights“ noch auf die Stadt in North Carolina, in der Adams aufgewachsen ist, und ist „29“ das Alter des mittlerweile 30-Jährigen, als das Album aufgenommen wurde. Aber von Bekenntniszwang sind sie nicht getrieben, die von Adams verfassten Dramolette – der Dichter wäre nicht mehr am Leben, hätte er auch nur einen seiner eigenen Songs durchlebt. In jedem der neun Lieder geht der Vorhang auf für ein neues erbärmliches Schicksal, von dem der Ich-Erzähler weniger leidend als genüsslich berichtet: Lebensläufe zwischen Alkohol und Pillen, Marihuana und Ephedrin, bösen Vermietern und sinnlosen Schlägereien, zwischen unerfüllter Sehnsucht, endloser Verzweiflung und von Gott und Hoffnung verlassener Einsamkeit. Das Klima ist meist winterlich und der See zugefroren, der Tod ist stets nah und wird bisweilen sehnsüchtig erwartet. Beschlossen wird „29“ denn auch von „Voices“, einem mitfühlenden Gruß aus dem Grab, bei dem Adams Stimme manchmal nur mehr mutlos krächzt. Es gibt Geschwüre, die kann kein Chirurg der Welt entfernen. THOMAS WINKLER

Ryan Adams: „29“ (Universal)