Schreiben wie Filme
Irmgard Keuns Roman „Das kunstseidene Mädchen“ liegt nun endlich wieder in seiner ursprünglichen und kühnen Fassung von 1932 vor. Eine Entdeckung
von FRANK SCHÄFER
Doris, die Heldin aus Irmgard Keuns 1932 erschienenem Roman „Das kunstseidene Mädchen“ ist ein Phänotyp, eine typische Repräsentantin der neuen Klasse der „Angestellten“, wie sie Siegfried Kracauer kurz zuvor, 1930, erstmals in soziologischen Kategorien beschrieben hatte. Keuns Roman liest sich zunächst wie eine Illustration seiner Thesen. Die Oberflächlichkeit, Konsumgeilheit, Libertinage, die Bildungsdefizite der Menschen „aus dem neuesten Deutschland“ – Doris führt das alles vor.
Zugleich manifestiert sich in ihrer Person ein neues weibliches Rollenmodell: die selbstständige, urbane, selbstbewusste „neue Frau“, so das zeitgenössische Schlagwort, die den konservativen Kerlen der Weimarer Republik das Fürchten lehrte. Wenn da nur nicht ihre kleinbürgerliche Herkunft wäre. Keuns Simplicissima weiß um ihre geringe Bildung und empfindet sie schmerzlich, kompensiert das aber, indem sie die Männer reihenweise anspitzt. Ihr strategisches Kalkül in erotischen Dingen erlaubt ihr immer wieder Machtdemonstrationen, die für Momente alle Standes-, Bildungs- und Einkommensunterschiede aufheben. Nie für lange. Schließlich bricht sie aus, macht Ernst mit ihrer Karriere, kündigt ihren Job als Stenotypistin nach einer libidinösen Annäherung ihres ältlichen Chefs, geht zum Theater, stiehlt einen Pelzmantel und flüchtet nach Berlin, wo sie nach stürmischen Zeiten doch noch die wahre, aufrichtige Liebe kennen lernt. Am Schluss knickt Doris also ein – und mit ihr Irmgard Keun. Sie findet kurzzeitig ein kleines Glück als dem arbeitenden Mann dienende, sparsame Hausfrau, die ihre Träume vom „Glanz“ vergessen hat. Der Roman endet zwar offen, aber die Abkehr vom „Neue Frau“-Paradigma wird deutlich insinuiert.
Trotz dieses konservativen Backlashs am Romanende spuckte die deutschnationale Presse Gift und Galle. Was nicht zuletzt an Keuns eruptivem, vom Expressionismus beeinflussten Staccato- Stil lag, der die Distanzlosigkeit und Plötzlichkeit des Erlebens, vor allem die Überwältigung durch die auf Doris einstürzenden vielfältigen Eindrücke verbürgt. Es bleibt keine Zeit für richtige Syntax, alles will schnell mit stenografiert sein, und so sind diese Sätze notwendig kaputt, überfordert von den Ansprüchen und Anfällen der Realität.
Die Leistungsfähigkeit dieser Textur zeigt sich vor allem, wenn Doris durchs zeitgenössische Berlin streift. Sie fängt die Stimmungen der Stadt ein, das politische Tagesgeschehen, die hohe Arbeitslosigkeit, Massenaufläufe, Unruhen, marodierende SA-Horden, den offenen Antisemitismus – und die Topografie selbst. Einem blinden Nachbarn beschreibt sie für eine Weile ihre Exkursionen, und so wird sie zum Medium, passt sie ihre Erlebnisberichte mimetisch dem Gesehenen an. Doris will „schreiben wie Film“, und genau das ist das hier. Ein mit der Handkamera eingefangener, verwackelter, gehetzter, mit schnellen Schnitten und Überblendungen experimentierender Dokumentarfilm. Musikfetzen, aufblendende Autoscheinwerfer, Kinoreklame, Schaufenster – die Erzählerin redet sich für ihren blinden Nachbarn in eine hyperwache, alles erfassende Ekstase.
Schon im Frühjahr 1933 stand das Buch auf der schwarzen Liste der Nazis. „Asphaltliteratur“ war das Verdikt – und das war Keuns Prosa tatsächlich. Schnell, hart, urban, einer ästhetischen Moderne verpflichtet, die in kürzester Zeit aus Deutschland exilieren musste – und noch dazu von einer gegen alle Ideologeme gefeiten humanistischen Unbestechlichkeit. Die Reichsverordnung „Zum Schutz von Volk und Staat“ bot die Handhabe, den Roman im August des Jahres zu beschlagnahmen und am 13. Oktober zu vernichten.
Das Ausland ließ sich davon nicht beeindrucken. Im selben Jahr erschienen Übersetzungen ins Französische, Englische, Ungarische und Dänische, 1934 ins Polnische. Irmgard Keun war eine Bestsellerautorin. Die Tantiemen ermöglichten ihr eine Weile das Abenteurerleben, das sie nun gezwungen zu führen war. Ebenso mutig wie die Lage verkennend strengt sie noch 1935 eine Schadenersatzklage gegen die Nazis an, wegen der Beschlagnahmung ihrer Bücher durch die Geheime Staatspolizei. Ganz dreist beantragt sie ein Jahr später, um wieder publizieren zu können, die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer. Natürlich bewirkt das alles nichts, sie wird von der Gestapo verhört und flüchtet ins belgische Exil nach Ostende. Sie hat ein Verhältnis mit Joseph Roth, reist mit ihm quer durch Europa und schreibt drei weitere Romane, die in Amsterdamer Exil-Verlagen erscheinen. Nach einem USA-Besuch wird sie 1940 in Amsterdam vom Einmarsch der Deutschen überrascht, sie inszeniert ihren Selbstmord mit einer Anzeige im Daily Telegraph, umgarnt einen SS-Offizier, der ihr gefälschte Papiere besorgt, und kehrt ins Deutsche Reich zurück, wo sie bis zum Kriegsende bei ihren Eltern in Köln ausharrt.
Die erste Neuausgabe des „Kunstseidenen Mädchens“ 1951 war eine zensierte. Wer auch immer der Zensor war – vermutlich sie selbst –, glättete den Text, domestizierte die defekte, aber nichtsdestominder fließende, wendige und reiche Kunstsprache und nahm ihr damit viel von ihrer Kühnheit und dem ursprünglichen Suggestionspotenzial. Zwölf Jahre Blubo-Kunst und ästhetisches Biedermeier hatten ihre Spuren hinterlassen. Nun kann man das Original wieder lesen – und sollte das tun.
Irmgard Keun: „Das kunstseidene Mädchen“. Nach dem Erstdruck 1932, mit Nachwort und Materialien hrsg. von Stefanie Arend u. Ariane Martin. Claassen, Berlin 2005. 304 S., 22 Euro