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Archiv-Artikel

Eigensinnnig, tiefsinnig – und abgründig

Melancholie ist wieder gefragt. Eine Ausstellung zu Genie und Wahnsinn fasziniert das Publikum in Paris. Bald auch in Berlin

VON JUDITH LUIG

Die Schlange beginnt kurz hinter den Champs-Élysées, sie läuft die Straße entlang, krümmt sich einmal auf dem regennassen Rasen und rutscht dann langsam, Mensch für Mensch, die Stufen hinauf, um nach Stunden endlich im Eingang des Museums zu verschwinden. Ein Paradox: Die Massen drängt es zur Kunst der Einsamkeit. Durchschnittlich viertausend Besucher täglich zählt die Pariser Ausstellung zur Melancholie im Abendland; bis Dienstag, bei der Finissage, sollen es insgesamt dreihunderttausend gewesen sein, die sich in den prachtvollen Sälen des Pariser Grand Palais den Dämonen Saturns hingegeben haben.

Ein gewaltiges Vorhaben von Kurator Jean Clair, über 2.000 Jahre Kulturgeschichte unter ein Dach zu bringen. Doch es könnte gelingen, hat sich die Melancholie doch über Jahrhunderte immer in der Spannung zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt bewegt. Der Untertitel macht dies deutlich: „Genie und Wahnsinn“.

Die Melancholie erfreute sich durch alle Epochen hindurch besonderer Aufmerksamkeit, ja Beliebtheit. Dabei ist sie doch die isolierendste aller Stimmungen. „Ein Melancholiker“, so schreibt Samuel Butler 1659, „befindet sich in der schlechtesten Gesellschaft der Welt: seiner eigenen.“ Für die Ausstellung gilt das nicht. Wer sich mit anderen zehn Neugierigen vor dem Schaukasten drängelt, in dem ein voraugustäischer, 29 Zentimeter hoher Ajax über seinen Anfall verzweifelt, bei dem er eine Schafherde niedermetzelte, der kann sich kaum etwas Schöneres vorstellen, als allein zu sein.

Doch Widersprüche sind bei näherer Betrachtung Kern der Kulturgeschichte der Seelenverstimmung. Die Melancholie war immer eine Mischung aus Tiefsinn und Trübsinn, aus Trägheit und Gedankenschärfe. Eine todesähnliche Zustände bringende Krankheit von Körper und Seele, eine teuflische Verführerin gar, und doch zugleich immer auch Inbegriff des künstlerischen Wesens, des Genies. „Der babylonische Turm brachte niemals so viel Verwirrung der Sprachen, wie das Chaos der Melancholy Symptome hat“, schreibt Robert Burton 1621. 18,5 Millionen Menschen leiden in der Europäischen Union an Depressionen, so die aktuellen Zahlen des European Brain Council. Sucht man in der Ausstellung eine künstlerische Aufwertung der Krankheit?

Wie die dickflüssige, bittere, schwarze Galle, die seit dem Altertum die Vorstellungen vom melancholischen Gemüt bestimmt und die unsichtbar bleibt, weil sie in weit geringerem Maße als die anderen Körpersäfte ausgeschieden wird, bleibt das Wesen des Melancholikers im Grunde unfassbar und undefinierbar. Vielleicht lässt sich so viel sagen: Was den Melancholiker vom Depressiven abhebt, ist die Vorstellung, der Melancholiker sehe mit seinem ins Leere gerichteten Blick eine tiefere Wahrheit, die der Betrachter nur erahnen kann, während der Depressive vor Elend nichts als sein Elend sieht. Der Depressive ist im Diesseits eingefroren, der Melancholiker blickt ins Jenseits. Das ist es wohl, was die Faszination der Melancholie ausmacht.

Was im 20. Jahrhundert vom Geheimnisvollen der Vergangenheit blieb, ist eine unaussprechliche, lähmende Traurigkeit. Es scheint, als sei die vieldeutige melancholische Stimmung in der Schwermut hängen geblieben, im Aussichtslosen, dem Edward Hoppers „Frau in der Sonne“ von 1961 entgenzublicken scheint, als sei sie in der abstrakten Stille von Giorgio de Chiricos Plätzen versteinert. Doch der Ansturm auf die Pariser Ausstellung, der sich sicher auch in Berlin wiederholen wird, wenn die Neue Nationalgalerie am 17. Februar „Melancholie – Genie und Wahnsinn in der Kunst“ eröffnet, spricht für ein neues Interesse an einer in jüngster Zeit fast insignifikant gewordenen und zum Apothekentipp verkommenen Kategorie.

Als letztes Wort in Paris wählte Kurator Jean Clair eine Skulptur von Ron Mueck aus dem Jahr 2000, einen überlebensgroßen, naturalistischen dicken Plastikmann, der zusammengekauert, resigniert nackt in einer Ecke sitzt. Der Melancholiker als Zeichen der transzendentalen Obdachlosigkeit, wie sie Georg Lukács formuliert hat? Melancholie als Ausdruck einer existenziellen Sinnlosigkeit? Vielleicht kann man dieses Riesenbaby als Zeichen sehen: Die Melancholiedarstellungen des 20. Jahrhunderts sind wieder zu einer ursprünglichen Nacktheit gekommen.

Die längste Zeit hat die Idee des Melancholikers die Kultur des Abendlandes bestimmt. Die antike Humoralpathologie, nach der die Verteilung der Säfte im Körper ausschlaggebend für seinen Charakter ist, unterteilte Menschen in Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und eben Melancholiker. Doch während cholerische oder phlegmatische Zeitgenossen wenig Beachtung fanden, ist dem melancholischen Typus eine ganze Flut von Attributen zugeordnet und von Schriften zugedacht. Im Elisabethanischen Zeitalter war die ästhetische Pose des Schwermütigen derart populär, dass Ben Jonson ihn in seiner Charakterkomödie „Every Man in His Humour“ bloßstellte. „Habt ihr eine Sitzgelegenheit, auf der ich melancholisch sein kann?“, fragt der eingebildete Melancholiker, sobald er einen neuen Raum betritt.

Eine Inkunabel der Melancholie ist der Kupferstich von Albrecht Dürer (1471–1528) aus dem Jahr 1514. Durch den Titel schon beansprucht das Werk seine vorrangige Stellung: „Melencolia I“. Eine zweite hat Dürer nie angefertigt, das haben nachfolgende Künstler erledigt, die immer wieder Teilaspekte aus Dürers Werk aufgriffen, wie Peter-Klaus Schuster in seiner eindrucksvollen Arbeit „Dürers Denkbild“ von 1991 aufzeigt. In Dürers Werk ist bereits die ganze Vieldeutigkeit der Melancholie enthalten. Schuster erläutert, dass die Melancholiefigur am Ende des damaligen menschlichen Wissens angelangt ist. „Dürer zeigt sie in einem vollendeten Zustand, den sie immer neu erlangen und gegen all die an ihr selbst noch ablesbaren melancholischen Anfechtungen der Trägheit und des Trübsinnes bewahren muss.“

Der Melancholie wohnt eben nicht nur Traurigkeit inne, sondern auch eine Tiefe des Geistes. „Warum“, so fragt ein Pseudo-Aristoteles im 2. Jahrhundert vor Christus, „sind alle großen Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler melancholisch?“ Der italienische Neoplatonist Marsilio Ficino pflichtet ihm 1482 bei: „Einige Melancholiker übertreffen jeden in Intelligenz derart, dass man sie gar für göttlich halten könnte.“ Immanuel Kant, der den Verstimmten an anderer Stelle auch einen „Grillenfänger“ nennt, vertritt diese Idee noch während der deutschen Aufklärung, die den Melancholiker eigentlich als den Unaufgeklärten sieht: „Der Melancholiker duldet keine verworfene Unterthänigkeit und atmet Freiheit in einem edlen Busen.“

Die Weitsicht der Melancholie macht sie aber gleichzeitig auch gefährlich. Hildegard von Bingen deutet sie Mitte des zwölften Jahrhunderts als Strafe für den Griff nach dem Baum der Erkenntnis. Beseelt vom protestantischen Geist, setzt Lucas Cranach der Ältere (1472 bis 1553) die Idee der teuflischen Verführung in seiner Melancholiedarstellung um. Auf den ersten Blick scheint Cranachs Figur mit dem durchdringenden Blick aus Mandelaugen und dem blanken Dekolletee ein ironisches Spiel mit Dürers innehaltendem Engel eingehen zu wollen. Doch Cranachs geflügelte Melancholiefigur lästert Gott, wie Yves Hersant in einem Aufsatz von 1991 aufzeigt: „Durch einen dreisten blasphemischen Akt macht dieser ‚Engel‘ die Dornenkrone Christi zu einem Accessoire seiner Koketterie, das er mit frevelhafter Eleganz auch noch schief trägt.“ Die süße Flügelfigur in leuchtendem Rot steht im Banne Satans. „Des Todes ernste Düsternis bereiten nymphische Hände“, schreibt Georg Trakl 1913, offenbar seelenverwandt, über die Melancholie.

Verfällt er der Melancholie, läuft der Betrachter von Cranachs Gemälde Gefahr, sich gegen Gott aufzulehnen. So ist der Melancholiker auch immer ein gefährlicher Charakter für Autoritäten. Sein Drang zum Rückzug macht ihn ungreifbar für Systeme. Er bleibt ein Einsamer und ein Widerständiger. Auch das ist die Melancholie.

JUDITH LUIG, 31, ist Redakteurin im taz.mag „Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst“, eine Kooperation der Réunion der Musées Nationaux und der Neuen Nationalgalerie, wird vom 17. Februar bis zum 7. Mai in Berlin zu sehen sein