Wenn ein Dämon …

… sich ins Gemüt schleicht, wissen die Betroffenen nicht, woher er kommt und was ihn Angst zu stiften bewogen hat. Starre, Furcht, Stress und Horizontlosigkeit hinterlässt er. Ein Schwerpunkt zum Thema Depression

von JAN FEDDERSEN

Wer von ihr erzählt und sagt, ihre Rätsel seien gelöst, lügt. Die Forschung zu dem, was eine Depression ist, wie sie entsteht, sich auswächst, sich in jungen Jahren verhüllt und womöglich im Alter fühlbar wird, hat gerade erst begonnen. Was aber allen Depressiven eigen scheint – und was ihren inneren Spiegel horribler eintrübt als den eines Melancholikers oder eines Missmutigen –, ist das Gefühl, keinen Horizont hinter der eigenen Wahrnehmung zu sehen. Anders als Optimisten, die ein fünfzigprozentig gefülltes Glas Wasser halb voll sehen, verschieden auch von Pessimisten, die es halb leer glauben, sind sich Depressive sicher, dass dieses Glas in Bälde ausgetrunken werde. Von wem auch immer.

Neurobiologen wie Psychoanalytiker interpretieren Befunde zum Depressiven inzwischen ähnlich; die Feindseligkeit der Naturwissenschaftler der Psychologie gegenüber verfliegt mehr und mehr: Forscher in München wie Amsterdam und den USA haben, Frucht wissenschaftlicher Mühen, die nicht das Physiologische allein denkt, im Gehirn das limbische System als jenes identifiziert, in dem gestiftet wird, was Depression genannt wird. In Laborversuchen mit Mäusen konnten sie nachweisen, dass die Angst vor dem Leben – und all seinen gewöhnlichen, alltäglichen Unwägbarkeiten – bei all jenen Tieren ausgeprägter ist als bei anderen, die in einer sehr frühen Phase getrennt waren von ihren Müttern, Vätern. Die Versuchsanordnung war keinesfalls bestialisch: Davon abgesehen, dass sie mit ihren Müttern nicht mehr in Kontakt kamen, waren ihre Umweltbedingungen behaglich.

Heraus fanden die Forscher, dass diesen Mäusen, deren neurobiologischen Apparate denen des Menschen nicht unähnlich sind, im Gehirn ein Stoff fehlt, der ihren Stress, ihren Horror vor Unbekanntem lindert, ihn senkt und wieder auf Normalmaß reduziert. Der Vergleich mit Menschlichem lag, neben und nach vielen weiteren Tests, nahe: Depressive waren sich ihrer Welt insgesamt nie sicher. Vertrauen zu fassen in das, was kommen könnte, war ihnen nicht möglich – ihnen fehlt diese spezifische neurobiologische ‚Brücke‘, die ihre angstvolle Erregung senkt.

Das allerdings, was in neurobiologischen Reihen nachgewiesen werden konnte, hat die Psychoanalyse wie die Therapiebranche überhaupt allenthalben längst als Material parat: Depressiven ist durch die Bank gemein, dass ihnen das Leben lieb ist – aber nicht das eigene; sie verfügen über ein Merkmal, das Nichtdepressiven nicht unbekannt ist, was ihnen aber flüchtig nur spürbar bleibt: Stress. Bei denen dimmt sich die gefühlte Anstrengung wieder nach bewältiger Situation in entspanntere Gefühlslagen zurück – bei Depressiven aber bleibt der Pegel der Überspannung.

Was die Psychoanalyse als „Erfahrungswissenschaft“ seit gut hundert Jahren an Patienten realisiert, wird nun eben auch neurobiologisch unterfüttert. Naturwisschaftler wie der Nobelpreisträger Eric Kandel gehen aber nicht allein davon aus, dass sich frühe, traumatische Erlebnisse körperlich einschreiben, sich in jede Pore, jede Zelle, jeden Nerv, jede Synapse einnisten, sondern sich auch zum Besseren umkodieren lassen. Hilfsweise medikamentös, in erster Linie aber durch reflektierenden Umgang, eben durch einen therapeutischen Prozess, kann dies erhellt werden: Was den Beginn jeder Genesung markiert, und sei sie noch so unvollständig. Kandel wie viele andere begreifen das Gehirn eben nicht als fertig – es kann sich stetig verändern, auch zum Vitaleren, bis zum Tode. Tröstlich schon dies.

Plastizität heißt das Wort: Jede Zelle wandelt sich ständig, wenn und weil sie unentwegt Reizen ausgesetzt werden kann. Lernen produziert mehr Lust auf Lernen – weil das Gehirn stimuliert wird, besser: sich stimuliert. Das Gehirn kann neu beschrieben werden: Die menschliche Festplatte kann per therapeutischer Software nicht gelöscht und durch eine andere ersetzt, jedoch anders beschriftet werden: Kein Dämon bedroht das halbvolle Glas Wasser – und selbst wenn, wüsste ein Betroffener, wie er sich dieses Monstrums erwehrt, und sei es durch die Fähigkeit zur Organisation neuen Wassers.

So betrachtet, ist dies die neue Qualität der neuen, wechselseitigen Wertschätzung von Neurobiologie und Psychologie: Dass die Naturwissenschaftler zu wissen beginnen, dass es nicht ernsthaft eine Zweiteilung des Menschen gibt – hier der Körper, dort die Seele. Dass vielmehr die Seele den Körper macht, der Körper das Psychische hervorbringt – und keine Seele ohne Körper, keine Physis ohne Psyche denkbar ist. Das ist das Göttliche an dem, was menschliche Selbsterforschung inzwischen hervorbringen kann: Das Wissen um die Leichtigkeit, mit der Menschen früh traumatisiert werden können – und wieder auf den Boden der weniger depressiven Tatsache zurück geholt werden können: Save our souls!

Fragen gibt es noch reichlich, die Forschung wie die Reflektion menschlicher Erfahrungen hat ja erst begonnen. Wie kommt es, dass manche Kinder Horror – trotz Trennung von den Eltern – erleben und trotzdem kaum beschädigt werden? Aus welchen Gründen vernarben bei einigen die Wunden schneller (und durch was genau?) als bei anderen? Weshalb wirken sich manche seelischen Verletzungen desaströs aus und andere weniger? Woran liegt, dass noch heute Enkel und Kinder von Holocaustüberlebenden leiden, obwohl sie selbst keine Verfolgung erlitten? Liegt darin der Schlüssel für die vulgäre These, dass einige Formen der Depression genetisch bedingt seien, wie von Geisterhand inszeniert? Oder hat es mit familiärem Erbe zu tun – mit den Gefühlen von Verlust und Trauer, die den Nachfahren, als sei es eine familiäre Delegation, übertragen werden?

Dass die Forschung zur Depression allenfalls am Anfang steht, im Grunde noch irrlichtert, wie bei einem Spiel nach den Regeln von trial & error, ist schon daran zu erkennen, dass die Pharmakologie oft selbst nicht weiß, weshalb manche Antidepressiva helfen und andere die Symptome noch verschlimmern. Sicher ist – Neurobiologen wie Kandel und die meisten seiner Kollegen wie auch Psychologen sind da einig: einzig Gewalt gegen Menschen hinterlässt immer Narben, die niemals gänzlich verschwinden. Ein Depressiver jedoch weiß nicht einmal, dass er sie trägt. Wüsste er es, gar die Gründe, wer oder was sie ihm zufügte, wäre er auf gutem Weg. Nicht dem, der ihn chronisch gut gelaunt macht. Vielleicht aber auf einem, der ihm sicheren Grund gibt, um möglichst wenig unglücklich zu bleiben.

JAN FEDDERSEN, 48, ist taz.mag-Redakteur Literatur: Francois Ansermet & Pierre Magistretti: Die Individualität des Gehirns, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005; Anna Freud & Dorothy Burlingham: Heimatlose Kinder, S. Fischer, Frankfurt a.M. 1971; Dan Bar-On: Erzähl dein Leben!, Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2004