: Die Literatur bin ich
Von wegen Mozart-Jahr, Rembrandt-Jahr oder Heinrich-Heine-Jahr: Das Jahr 2006 könnte wieder einmal ein Marcel-Reich-Ranicki-Jahr werden und die Verehrung für ihn neue Dimensionen erreichen
VON GERRIT BARTELS
Als Marcel Reich-Ranicki im Juni des vergangenen Jahres 85 Jahre alt wurde, schien es angesichts der vielen überschwänglichen, landauf, landab erfolgten Würdigungen, als hätte zu diesem Zeitpunkt die Marcel-Reich-Ranicki-Verehrung ihren ultimativen Höhepunkt erreicht; davon, dass er die ganze deutsche Kulturnation verkörpere, hatte damals Bundespräsident Köhler in einer Laudatio gesprochen, und kaum ein Tag verging, an dem man nicht Reich-Ranickis Porträt auf irgendeiner Zeitungsseite oder ihn höchstselbst auf irgendeinem Fernsehsender sehen konnte. Höchstens zu seinem 90. Geburtstag, so dachte man in jenen Tagen, wäre noch mal so eine Würdigungsflut, ein Reich-Ranicki auf allen Kanälen, denkbar.
Nun ist das neue Jahr noch ein ganz junges, doch man bekommt schon jetzt den Eindruck, als würde 2006 ein noch größeres Marcel-Reich-Ranicki-Jahr als das vergangene, als könnte es noch mehr Reich-Ranicki geben im Fernsehen, auf Zeitungsseiten und vor allem auch auf Buchseiten. Nicht zuletzt weiß Reich-Ranicki selbst nur allzu gut, dass gerade nach Geburtstagsbelobigungen das Vergessen umso stärker einsetzt und es diesem kraftvoll zu begegnen gilt.
Es begann also mit Reich-Ranickis Empfang der Ehrendoktorwürde der FU Berlin am vergangenen Montag, wo der größte Hörsaal der FU kaum für alle Geladenen ausreichte, geschweige denn für die gemeinen Studenten, die sich das Ganze im benachbarten Hörsaal per Fernsehübertragung ansehen durften. Es war Reich-Ranickis siebte Ehrendoktorwürde, und die FAZ räumte wie in besten Geburtstags- und Vorgeburtstagstagen und seit einigen Jahren eigentlich immer für Reich-Ranicki einen Großteil ihrer Feuilletonaufschlagseite, um über die Veranstaltung zu berichten. Nun war diese Würdigung für Reich-Ranicki sicher bedeutender als manche andere – 1938 war er von der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin aufgrund seiner jüdischen Abstammung nicht zum Studium der Philosophie zugelassen worden. Trotzdem verschafften die Veranstaltung und Reich-Ranickis Dankesrede keinen neuen, gar gänzlich unbekannten Einblick in sein Leben.
Weiter geht es im Februar: Am 2. Februar bekommt Reich-Ranicki die Ehrendoktorwürde der Universität Tel Aviv im Frankfurter Römer von deren Präsidenten Professor Itamar Rabinovich überreicht. Die Laudatio hält Joschka Fischer. Am 13. Februar eröffnet die Deutsche Verlagsanstalt die Marcel-Reich-Ranicki-Buchsaison: „Aus persönlicher Sicht“ heißt das Mitte Februar erscheinende Buch, das eine Auswahl von Reich-Ranickis Interviews und Gesprächen seit der Veröffentlichung seiner Autobiografie „Mein Leben“ im Jahr 1999 versammelt. Wohl gemerkt, Interviews und Gespräche mit ihm als Autor. Kurz darauf ist Reich-Ranicki wieder mit dem Literarischen Quartett auf Sendung, Heinrich Heines 150. Todestag gilt es zu gedenken, und im März kommt der fünfte und letzte Teil seines von ihm herausgegebenen Kanons der deutschen Literatur heraus, Essays in fünf Bänden von Martin Luther bis Durs Grünbein.
Damit nicht genug: Auch die „Fragen Sie Reich-Ranicki“-Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ist inzwischen für buchwürdig befunden worden. Im Mai veröffentlicht der Insel Verlag „Marcel Reich Ranicki antwortet auf 99 Fragen“ als Hardcover. Den Abschluss des Marcel-Reich-Ranickis-Frühjahrs (ja, der Herbst steht auch noch an!) bildet das zum 100. Geburtstag von Wolfgang Koeppen im Juni bei Suhrkamp erscheinende achtstündige Gespräch, das Reich-Ranicki 1985 mit Koeppen geführt hat – da ist Reich-Ranicki endlich wieder auf der anderen Seite des Mikrofons zu erleben: als Fan, Verehrer und Unterstützer, der Koeppen dazu bringt, über sein Leben und seine Schriftstellerei zu berichten, aber auch über seine lange, lange Zeit des Nichtschreibens.
Auf das Koeppen-Buch darf man wirklich gespannt sein. Es erschließt Koeppen vielleicht einen neuen, wenn auch kleinen Leserkreis. Der Kanon gehört zu einer der selbst gestellten, späten Lebensaufgaben Reich-Ranickis – die sehr zeitgemäß ist, da Ordnung und Sinnstiftung mehr denn je gefragt sind, da Best-of-Listen und Lexika etwa „der bedrohten Wörter“ vermeintliche Orientierung in einer vermeintlich immer unübersichtlicher werdenden Welt bringen sollen. Gerade aber das Marcel-Reich-Ranicki-Gesprächsbuch und die 99 Fragen demonstrieren wieder einmal, was für ein unschätzbares Zugpferd Reich-Ranicki auf dem Buchmarkt ist. Er ist eine Lichtgestalt, ein Markenartikel, der sich immer verkauft. Und um den auch ein Frankfurter Zeitungsfeuilleton einen Hof bildet und unentwegt berichterstattet, um so wiederum Leser binden und begeistern zu können. Marcel Reich-Ranicki ist ein ständig sich selbst reproduzierendes System: Kolumnen wie die in der FAS werden zu Büchern, Gespräche und Interviews werden zu Büchern, viele alte Zeitungsartikel (wie etwa „Über die Amerikaner“) ebenfalls, und aus den Büchern werden wiederum Vorabdrucke und Zeitungsartikel mit und über Reich-Ranicki, aus denen wieder neue Bücher generiert werden können.
Das alles vervielfältigt sich bei Reich-Ranicki umso mehr, als dass sich seine persönliche Lebensgeschichte und seine Liebe und Leidenschaft zur Literatur aufs intensivste miteinander verschränkt haben. Sein Leben als Holocaustüberlebender ist ein exemplarisches, und aus dem mächtigem Literaturkritiker ist schon längst ein Autor und auch ein Herausgeber seiner selbst geworden.
„Die Kritik wirkt, wenn sie redet, und sie wirkt, wenn sie schweigt. Sie belehrt und erzieht, verführt und demoralisiert den Schriftsteller auch dann, wenn sie sich nur an das Publikum wendet oder wenn er entschlossen ist, sich ihrem Einfluss zu entziehen“, hat Reich-Ranicki in einem Aufsatz über Koeppen geschrieben. Das war 1961, und daran hat er sich immer gehalten – wichtiger als der Autor ist der Kritiker.
Er selbst ist inzwischen darüber weit hinweg – er allein hat sein Publikum, mehr als jeder Schriftsteller. Die Literatur ist zwar irgendwie noch sein Medium, doch es geht auch ohne. Möge sein großes und immer größer werdendes Publikum sich ruhig mal wieder von ihm, seiner Person, seiner Lebensgeschichte ab- und verstärkt der von ihm ja zumindest bis zu seinem Buch „Mein Leben“ eifrigst vermittelten Literatur zuwenden. Das wäre, bei aller Eitelkeit und dem ihm gebührenden Respekt, sicher in seinem Sinn.