: „An Utopien glaubt man nicht“
Elmar Altvater
Elmar Altvater (67) ist einer der profiliertesten Politikwissenschaftler Deutschlands. Der bekennende Marxist lehrt und forscht seit 1970 am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität. Mit dem Siegeszug des Kapitalismus hat er sich nie abgefunden: Seine wissenschaftliche Arbeit und sein politisches Engagement, anfangs bei den Grünen, später bei Attac, zielen darauf, Alternativen zur Macht des Mammons zu erarbeiten. Am Mittwoch hält Altvater seine Abschiedsvorlesung
Interview Felix Lee und Bert Schulz
taz: Herr Altvater, Sie haben schon einmal eine Abschiedsvorlesung gehalten – vor gut einem Jahr. Am Mittwoch folgt die nächste. Halten Sie es wie die Rolling Stones mit Ihren Abschiedstourneen?
Elmar Altvater: Das wäre gar nicht so schlecht. Aber die letzte „Abschiedsvorlesung“ war die Schlussvorlesung meiner letzten Uni-Veranstaltung. Ich habe mehrere Kisten Wein gekauft – so 100 Flaschen. Wir haben schön getrunken, dabei Pizza gegessen, die Studenten haben ein paar Lieder gesungen. Das war wunderbar und hatte einen ganz anderen Charakter als eine Abschiedsvorlesung. Die ist viel formeller.
Das heißt: Mit der Abschlussvorlesung am Mittwoch ist für Sie definitiv Schluss mit der Uni?
Jein. Ich habe noch Forschungsprojekte laufen und eine Reihe von Diplomarbeiten und Promotionen zu betreuen.
Empfinden Sie den Abschied als tragisch oder freuen sich darüber?
Tragisch finde ich ihn auf keinen Fall – fröhlich bin ich aber auch nicht. Auf jeden Fall ist ein Schuss Wehmut dabei.
Das Otto-Suhr-Institut (OSI) für Politikwissenschaft hatte lange einen Ruf als Ort der Lagerkämpfe – daran waren Sie als bekennender Marxist nicht unbeteiligt.
1970 kam ich ans OSI. Damals wurde ich Teil der „Sozialistischen Assistentenzelle“, deren Mitglieder ihr Gehalt unter anderem für linke Projekte gespendet haben. Es stimmt: Wir führten sehr heftige Konflikte. Aber auch wenn es im Rückblick anders scheint: Die Linke war immer eine Minderheit am Institut.
Im Vergleich mit den Linienkonflikten der 70er-Jahre hatten die Umstrukturierungen der vergangenen Jahre doch viel größere Auswirkungen auf das OSI.
Das ist richtig. Anfang der 90er-Jahre hatte das OSI etwa 40 Professorinnen und Professoren. Jetzt sind es noch 14 – also nur noch ein Drittel. Wenn ein Institut so unter Druck steht, dann bedeutet dies auch, dass man sich interne Konflikte gar nicht mehr leisten kann.
Der Generationenwechsel ist mit Ihrem Abgang nun vollzogen?
Weitgehend. Das ist ja auch kein Wunder. Ende der 60er-Jahre expandierten die Hochschulen. Es gab eine Kohorte von Akademikern, die dieses Zeitfenster nutzte. Diese Gruppe geht jetzt in Rente: Die 68er sind eben jetzt 68. Was mich viel mehr ärgert: Dieser Generationenwechsel ist kein richtiger Wechsel, sondern ein Abbau von Stellen.
Und was haben Sie erreicht?
Wir haben erreicht, nicht nur seriös wissenschaftlich zu arbeiten, sondern auch kritisch. Die linke Wissenschaftszeitschrift Prokla gibt es immer noch. Bloß dass sie damals „Probleme des Klassenkampfes“ hieß und heute „Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaften“. Irgendwann haben wir gesagt, die Begriffe „Klasse“, „Kampf“ und „Probleme“ haben eine andere Bedeutung bekommen – und das muss sich auch im Namen ausdrücken. Ich bin bis heute Redaktionsmitglied. Zwar bin ich nicht immer glücklich mit dem, was in der Zeitschrift steht. Aber im Prinzip bleibt die Prokla eine gute Sache.
Sind die Studenten heute unkritischer als früher?
In den frühen 70er-Jahren war der Umgang mit den Dozenten zwar konfrontativer, aber auch kollegialer. Letzteres lag daran, dass die Professorengeneration noch relativ jung war. Ich war damals 30, fast im gleichen Alter wie die Studenten. Wir gingen in die gleichen Kneipen und flipperten an den gleichen Automaten. Da gab es kein Autoritätsverhältnis so wie einige Jahre später, als ich 40, 50 und dann über 60 war – also Opa gewissermaßen. Aber selbst wenn man diese Alterslücke mit einbezieht, sind die Studenten von heute ganz anders.
Inwiefern?
Die Sicherheit, nach dem Studium einen guten Job zu kriegen, ist verflogen. Studierende wissen heute nicht, ob sie auch im Berufsleben noch ihren Interessen nachgehen können. Das bedeutet, dass sich durch die Veränderung des Arbeitsmarktes auch das Verhältnis zur Qualifikation geändert hat. Viele Studenten versuchen, ihre Ausbildung auf den Arbeitsmarkt auszurichten, und gönnen sich kaum Zeit, über gesellschaftsrelevante Themen nachzudenken.
Anders als in den USA ist die Politische Ökonomie mit marxistischer Ausrichtung in Deutschland ein sehr seltenes Fach. Fühlen Sie sich als aussterbende Spezie?
Auch meine Stelle war anfangs nicht auf Marxismus festgeschrieben. Dennoch habe ich von Anfang an „Kapital“-Lesekreise angeboten. Karl Marx hat eine großartige Theorie entwickelt, die uns heute auch sehr viel weiter helfen könnte, etwa um verstehen zu können, wie es zu den Finanzkrisen der Welt kommt.
Aber sie hat in der Wirtschaftspolitik und -wissenschaft keine Bedeutung mehr.
Das ist ja der Jammer. Diese Paradigmenwende in der Politikwissenschaft empfinde ich als wahren Verlust.
Sie haben Ihr Leben lang zu Marx geforscht. Was für ein Verhältnis haben Sie zu Geld?
Wer die kapitalistische Gesellschaft verstehen will, muss sich mit Geld beschäftigen. Geld ist das Bindemittel der Gesellschaft. Geld ist auch für mich außerordentlich wichtig. Aber ich habe nie Geld machen wollen. Denn wer viel Geld machen will, muss sich dafür sehr viel Zeit nehmen. Man muss die Börsennachrichten verfolgen, man muss versuchen, an Insiderwissen heran zu kommen. Mit den Einsichten, die ich durch meine Arbeit gewonnen habe, hätte ich theoretisch auch Geld verdienen können. Das habe ich aber nie gemacht.
Das kann man natürlich gut sagen, wenn man ein Beamtengehalt hat.
Richtig. Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht andere Aktivitäten gemacht hätte, die Geld kosten. Etwa die Unterstützung von politischen Projekten.
Sind Sie Idealist?
Wenn man politisch handelt, übernimmt man eine gewisse Verantwortung. Diese kann man nur tragen, wenn man die Dinge einigermaßen vernünftig analysiert hat. Man muss aber auch Ziele haben. Diese Zielsetzung kann ich aus der Analyse allein nicht begründen. Dazu brauche ich auch Ethik, Moral und Utopien. Sonst geht das alles nicht. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich ein Idealist bin. Ich mache all das nicht, weil ich ein Gutmensch sein will, sondern auf Basis einer Analyse. Ich bezeichne mich als Materialist.
Sie sprechen von Utopie. Haben Sie die noch?
Selbstverständlich habe ich Utopien.
Und glauben Sie auch daran?
An Utopien glaubt man nicht. Utopien sind Vorstellungen von einer anderen Zukunft. Wenn ich also sage, wir brauchen mehr Solidarität in der Gesellschaft, dann ist das eine Utopie. Und dann muss man dafür sorgen, dass solche Utopien auch realisiert werden.
Ist es diese Alternative, von der Sie so häufig sprechen?
Ich habe gerade ein Buch geschrieben: „Vom Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen“. Darin gibt es ein Kapitel über Utopien. Ich hatte es für notwendig empfunden, mich damit auseinander zu setzen, weil durch die schweren Finanzkrisen viele Initiativen entstanden sind – nicht nur in Lateinamerika, sondern auch hier. Erzwungen durch die Hartz-Reformen gibt es Gruppen, die gegen diesen Individualisierungsdruck der Ich-AG eine Wir-AG entgegen setzen. Auch das ist eine Utopie.
Wenn Sie jetzt vom Ende des bisherigen Kapitalismus sprechen – was heißt das konkret für Sie?
Die Grundthese meines Buches lautet, dass der Kapitalismus anders als der Realsozialismus nicht zusammenbrechen wird. Das ist ja das Perverse: Erst durch schwere Krisen, die viel Elend erzeugen, kommt es zu einer neuen Entwicklungsphase in der Gesellschaft; der Kapitalismus kann sich erholen. Aber in diesen Krisen verändert sich die Gesellschaft. Das kann man bereits sehen: Es entwickeln sich wieder neue Formen der kollektiven Genossenschaften.
Glauben Sie wirklich, dass es eine Genossenschaft mit den Finanzgiganten dieser Welt aufnehmen kann?
Natürlich kann sie es nicht. Außerdem sind auch Genossenschaften immer in der Gefahr, in das System integriert zu werden. Aber sie sind ein Weg. Und es gibt andere. Zum Beispiel gibt es eine immer größere Bewegung, die sich für die neuen Energieträger einsetzt. Die fossilen Energieträger neigen sich dem Ende. Wir brauchen eine Solarwende.
Das ist eine klassische Forderung der Grünen, die Sie wiederum vor einigen Jahren hinter sich gelassen haben.
Die Grünen haben das Tempo nicht mehr mitgehalten, sich den gesellschaftlichen Herausforderungen zu stellen. Insofern habe ich sie hinter mir gelassen und bin 2001 ausgetreten. Sie haben dem Kosovokrieg zugestimmt und sie haben sich auch sozialpolitisch auf den Pfad des Neoliberalismus begeben. Ehrlich gesagt war der Wandel der Grünen eine der größten Enttäuschungen in meinem Leben. Ich gehöre zu den Gründungsmitgliedern der Alternativen Liste in Berlin. Ich glaube, ich hatte Ausweisnummer 20.
Hoffen Sie nun auf die Linkspartei?
Die Hoffnung stirbt nie. Ich bin zwar skeptisch, könnte mir aber vorstellen, dass hier eine neue Verbindung der außerparlamentarischen Bewegung zu den parlamentarischen Vertretungen zustande kommt.
Man sieht Sie in Porto Alegre oder an anderen Orten der globalisierungskritischen Proteste. Interessieren Sie die Belange Berlins noch?
Ich habe mal ein Seminar veranstaltet über die Berliner Wirtschaft. Das ist 20 Jahre her. Ich habe dieses Thema nicht weiter verfolgt. Es war realpolitischer und konkreter, mich mit der Währungskrise oder der Schuldenkrise in der Dritten Welt zu beschäftigen, als sich mit diesem Filz auseinanderzusetzen.
Der Titel Ihrer Abschlussvorlesung lautet „The proof of the pudding … oder: Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir Kapitalismuskritik?“ Was geben Sie den Zuhörern mit auf den Weg?
„The proof of the pudding is in the eating“ ist ein englisches Sprichtwort, das mehrfach von Friedrich Engels zitiert wurde. Man weiß erst, ob der Pudding was taugt, wenn man ihn gegessen hat. Ein sehr schönes Zitat. Wozu betreiben wir Kapitalismuskritik, wenn wir es in der Praxis nicht ausprobieren? Erst dann erweist sich der Sinn der Kapitalismuskritik in der Praxis.
Ein abschließendes Bekenntnis: Weg von der politischen Theorie, hin zur politischen Praxis?
Nicht ganz. Denn politisch aktiv war ich als Uni-Professor auch. Was ich vielmehr damit sagen will: Kapitalismuskritik ist heute wichtiger denn je.