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Archiv-Artikel

in fußballland Liegewiese des Wahnsinns

Christoph Biermann, 44, liebt Fußball und schreibt darüber

Dieser Tage habe ich Post von jenem tollen Matratzenladen bekommen, bei dem ich vor einigen Monaten nach einem ausgiebigen Prozess von Versuch und Irrtum eine Matratze ausgesucht habe, die mich noch heute jeden Abend froh macht. Mehrfach brachte im Rahmen meiner Suche ein freundlicher Mitarbeiter unterschiedliche Lattenroste und Matratzen ins Haus, damit ich sie testweise beschlafen konnte. Im Rahmen der damit verbundenen An- und Abtransporte kamen wir auch ein wenig über Fußball ins Gespräch, denn der Schlafspezialist ist Fan von Borussia Dortmund. Wogegen so weit nichts einzuwenden war, bis zu ebenjenem Brief, der mich – nicht persönlich, sondern als Mitglied der Adressliste – zu einer Präsentation „hochwertiger Schlafmöbel“ einlud.

„Die Vorfreude auf die Fußball-Weltmeisterschaft hat auch uns erfasst“, war schon im ersten Satz zu lesen und anschließend erklärt, was mich bei der Einladung erwarten würde. „Das taktische Gesamtkonzept wird von den Firmen XY gestaltet“, hieß es. „Das Mittelfeld präsentiert sich mit zwei Ausnahmetalenten: YX als Spezialist für Kulinarische Flanken und XY mit seinem humoristischen Blick auf die schönste Nebensache der Welt. Der Anpfiff erfolgt um …“Als ich zu Ende gelesen hatte, sackte ich innerlich zusammen, denn manchmal bedarf es nur einer Kleinigkeit zu viel, dann bäumt es sich in mir auf: SCHLUSS! HÖRT AUF! DAS HÄLT DOCH KEIN MENSCH MEHR AUS! NOCH FAST EIN HALBES JAHR BIS ZUR WELTMEISTERSCHAFT UND ALLE DREHEN DURCH! SOGAR MATRATZENLÄDEN!

Dabei ist selbst das wahrscheinlich nur der Anfang, und es kommt noch schlimmer. Weshalb ab sofort verhindert werden muss, was noch zu verhindern ist, und zwar durch ein strenges Regelwerk:

§ 1 Jeder öffentliche Ausdruck von Vorfreude auf die WM ist streng untersagt, gestattet sind nur noch persönliche Freudenkundgebungen. Beispiel: „Toll, ich habe eine Karte für Iran gegen Angola in Leipzig.“

§ 2 Bis zum 10. Juli, dem Tag nach dem WM-Finale, ist jede Fußballmetaphorik komplett verboten. So haben Veranstaltungen ab sofort wieder eine „Anfangszeit“ und nicht etwa eine „Anstoßzeit“. Eine Veranstaltung ist „Beginn“ einer Reihe und nicht „Anpfiff zu“. Niemand „tappt in die Abseitsfalle“, und sei er auch noch so dumm, wenn er das nicht in einem Trikot auf einem Platz tut. Wer „kulinarische Flanken“ schlägt, wird auf Diät gesetzt, und beim „Dribbling durch die Kulturgeschichte“ wird man umgegrätscht.

§ 2 a Streng verboten sind auch Kombinationen mit „Kick it like …“ (Bisheriger Schlimmstfall: Kick it like Merkel)

§ 3 Den Vertretern jedweder Branchen sind alle Argumentationen untersagt, nach denen sich der Umsatz ihrer Produkte (seien es Couchtische oder Intimlotionen) durch die Weltmeisterschaft positiv entwickeln werde. Sonst wird nämlich das Gegenteil passieren, doch dazu später mehr.

§ 4 Allen Politikern und sonstigen Vertreten des so genannten öffentlichen Lebens ist es verboten, die politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Bedeutung der Weltmeisterschaft für die Bundesrepublik, einzelne Bundesländer, Kreise, Städte, Sprengel, Vororte oder gar „Regionen“ herauszustellen.

§ 5 Mit dem Attribut „angebliche“ werden alle Wirtschaftsexperten versehen, die den wirtschaftlichen Wert der WM zu bemessen versuchen.

§ 6 Eiskalte Verachtung ist für jene Politiker reserviert, die im Rahmen der WM tote Pferde satteln und ins Rennen zu schicken versuchen. Beispiel: Bewachung der WM durchs Militär.

§ 7 Lustig ist auch verboten! Wie etwa eine Drehscheibe des Suhrkamp-Verlages, auf deren Vorderseite WM-Torschützenkönige einzustellen und auf der Rückseite die Kalorien verschiedener Gemüse abzulesen sind. DAS IST NICHT LUSTIG!

Insgesamt dienen diese Regeln der Volksgesundheit und dem Schutz vor WM-Wahn. Sollten sie nicht befolgt werden, wird die Waffe des Boykotts gezückt. Schließlich befinden wir uns in einer Notwehrsituation. DER BOYKOTT GILT AUCH FÜR MATRATZENLÄDEN!