: Tremolo der Betroffenheit
In der Debatte um Zwangsehen und Ehrenmorde werden die Erkenntnisse der seriösen Migrationsforschung konsequent ignoriert. Stattdessen herrscht ein alarmistischer Ton
Ob Zwangsehen, Ehrenmorde oder Parallelgesellschaften – im öffentlichen Diskurs über Migranten herrscht derzeit ein regelrechter Run auf griffige Schlagworte, bei denen einem sofort Bilder durch den Kopf schießen von exotischen Lebenswelten, die mit der Moderne nicht zu vereinbaren sind. Mit solchen Bildern werden die negativen Begleiterscheinungen der Zuwanderung beschrieben. Glaubt man den meisten aktuellen Zeitungsberichten zum Thema, dann bestimmen diese Aspekte den Alltag einer großen Zahl, wenn nicht sogar des Gros der muslimischen Migrantinnen in Deutschland. Mehr noch: Sie gelten als die zentralen Gründe für das Scheitern dieser Zuwanderergruppe bei ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft.
Kein Wunder, dass inzwischen auch der Ruf nach neuen Gesetzen laut geworden ist gegen Missstände, die ihre Ursache in archaischen kulturellen Vorstellungen zu haben scheinen. Diesen soll mit allen rechtlichen Mitteln ein Riegel vorgeschoben werden: Gegenwärtig im Gespräch sind eine Gesinnungsprüfung für Muslime, die eine Einbürgerung anstreben, sowie die Heraufsetzung des Heiratsalters für nachziehende Ehepartner von Migranten, die bereits seit Jahren in Deutschland leben.
Wenn es um den Schutz der Gesellschaft vor undemokratischen Neubürgern und muslimischer Frauen vor patriarchalen Strukturen geht, so scheint es, dürfen grundlegende Verfassungsgrundsätze einfach über Bord geworfen werden. Der Rechtsstaat verlangt zwar, niemanden aufgrund seiner Religion zu diskriminieren. Der Muslim-Test, wie ihn Baden-Württemberg vorschlägt, fußt jedoch auf einem Generalverdacht gegenüber Menschen, die nichts anderes eint als ihre Zugehörigkeit zu einer Religion.
Was aber ist die empirische Grundlage, von deren Basis die Politik ihren neuen Aktionismus ableitet? Es handelt sich um vorgeblich wissenschaftliche Studien, die in einer Kombination aus soziologisch verbrämter Sprache und emotionaler Selbstinszenierungen die neuen Wahrheiten „aus dem Inneren der Migrantengesellschaft“ quasi authentisch und damit offensichtlich für viele Menschen glaubwürdig zu berichten wissen. Vergeblich sucht man in solchen Veröffentlichungen nach einem Hinweis darauf, dass die mit Blick auf Anatolien als „islamische Traditionen“ ausgemachten Praktiken wie Zwangsverheiratung und Ehrenmorde durchaus nicht auf Muslime beschränkt sind, sondern ländliche Traditionen aus vorislamischer Zeit darstellen, die auch bei assyrischen Christen und jessidischen Kurden anzutreffen sind; von den Betroffenen werden sie durch die Interpretation ihrer je eigenen religiösen Tradition legitimiert.
Anstelle solcher Differenzierungen geistert die durch nichts belegte Behauptung durch die Presselandschaft, der zufolge gut die Hälfte aller türkisch-muslimischen Frauen in Deutschland zwangsverheiratet worden sein soll. Im gleichen Atemzug muss „der Islam“ oft dafür herhalten, das schlechte Abschneiden eines nicht unerheblichen Teils der Kinder mit türkischem Migrationshintergrund zu erklären. Es seien „die Muslime“ und ihr fehlender Wille, sich in die hiesige Gesellschaft zu integrieren, der ihre Kinder in der Schule scheitern lässt, lautet ein gängiges Argument. Die Tatsache, dass sich das deutsche Schulsystem mit italienischen Kindern und Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawien teilweise sogar schwerer tut als mit solchen aus türkisch-muslimischen Familien, wird dabei geflissentlich übergangen: Es würde ja die griffige kulturalistische Deutung in Zweifel ziehen.
Es verwundert nicht, dass eine solche Literatur, die auf populistische Weise und in eingängiger Sprache verbreitete Klischees bedient, ein breites Publikum findet. Bestürzend und bezeichnend für die Qualität der öffentlichen Debatte über Migration und Integration in Deutschland ist allerdings der Umgang von Politik und Medien mit dieser Art von Literatur. Statt die Ergebnisse der umfangreichen wissenschaftlichen Migrationsforschung zu konsultieren, wie sie etwa im regelmäßig erscheinenden Bericht der Bundesintegrationsbeauftragten (August 2005) leicht verständlich nachzulesen sind, greift sie lieber auf romanhaft formulierte, biografische Erzählungen wie etwa diejenigen von Necla Kelek oder Seyran Ates zurück. Die Analysen solcher Autorinnen fußen allerdings mehr auf Alltagsdeutungen denn auf sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen.
Vielleicht wirken sie gerade deshalb so überzeugend. Beunruhigend ist jedoch die Tatsache, dass ein großer Teil der Medien die kritische Distanz zu den Werken der Autorinnen aufzugeben bereit ist und jede ihrer noch so unreflektiert und pauschal vorgebrachten Äußerungen unhinterfragt wie eine Tatsache behandelt. Dabei erfordert es wahrlich keine besondere Rechercheleistung, die Ergebnisse aktueller wissenschaftlicher Untersuchungen zur Integration von türkisch-muslimischen Migranten und Migrantinnen aufzuspüren.
Nicht nur im bereits erwähnten Bundesintegrationsbericht findet sich eine Vielzahl von Hinweisen darauf, dass sich das Leben muslimischer Frauen in Deutschland nicht allein durch Begriffe wie Zwangsheirat, Ehrenmord und Parallelgesellschaft beschreiben lässt. So konnte in einer Studie über Mädchen mit Migrationshintergrund (Boos-Nünning/Karakasoglu 2005) etwa festgestellt werden, dass sich die Mehrzahl der befragten türkischstämmigen Musliminnen auf positive Weise ihrer Religion verbunden fühlt, die ihnen vor allem Selbstvertrauen gibt und hilft, in schwierigen Situationen nicht zu verzweifeln. Zwei Drittel sehen sich gegenüber männlichen Familienmitgliedern nicht benachteiligt; ebenso viele fühlen sich als Frau in ihrer Religion akzeptiert.
Bei ansonsten sehr starken und als positiv empfundenen Bindungen an die Eltern wird eine von den Eltern arrangierte Ehe nur von einem Viertel dieser jungen Frauen befürwortet, und dies teilweise auch nur mit Einschränkungen. Die Ablehnung dieser traditionellen Form der Eheanbahnung durch die Mehrheit der jungen Frauen, die zwischen 15 und 21 Jahre alt sind, ist also mehr als deutlich. Konservativeren Migranten lässt sich dieser Konsens nicht durch diskriminierende Gesetzesvorschriften zum Ehegattennachzug, sondern besser im Rahmen einer breiten gesellschaftlichen Debatte vermitteln. Dazu müssen selbstverständlich auch die Selbstorganisationen der türkischen und muslimischen MigrantInnen einbezogen werden.
Zu emotional aufgeladenen Themen wie „Zwangsehen“ und „Ehrenmorden“ brauchen wir dagegen dringend sachliche Analysen, die auf soliden wissenschaftlichen Untersuchungen beruhen und Ausmaß und Ursachen dieser Phänomene beschreiben. Kulturalistische Schwarz-Weiß-Deutungen, die einen „Kampf der Kulturen“ heraufbeschwören, widersprechen nicht nur unserem Wissen über die Wandelbarkeit von Kulturen in Zeit und Raum und sind schlichtweg falsch. Sie sind auch gesellschaftspolitisch fatal.
YASEMIN KARAKASOGLU