: Brandsätze zum Jahrestreffen
TUNESIEN Bei Auseinandersetzungen mit Salafisten haben Sicherheitskräfte 200 Demonstranten festgenommen und mindestens einen Menschen getötet. Zuvor hatte die Regierung einen Kongress der Gruppe verboten
VON REINER WANDLER
MADRID taz | Es waren Szenen, wie sie Tunesien nicht einmal während der Revolution gegen Diktator Zine El Abidine Ben Ali gesehen hat. Am Sonntag brannten in einem Vorort von Tunis und in der Stadt Kairouan die Barrikaden. Hunderte von Anhängern der salafistischen Gruppe Ansar al-Scharia griffen Polizisten und Soldaten mit Steinen, Knüppeln und Brandsätzen an. Auch aus Ben Gardane an der Grenze zu Libyen wurden Zwischenfälle vermeldet.
Ansar al-Scharia hatte zu ihrem Jahrestreffen nach Kairouan geladen. Am Freitag verbot die Regierung der islamistischen Ennahda den Kongress. 11.000 Polizisten und Soldaten waren in Kairouan im Einsatz, um den Beschluss des Innenministeriums umzusetzen. Ansar al-Scharia reagierte mit einer Mobilisierung nach Intilaka/Ettadhamen, einem der armen Vororte der Hauptstadt. Auch dort zog die Polizei auf. Mindestens ein Demonstrant kam im Laufe der Auseinandersetzungen ums Leben. Der 27-Jährige sei einem Schuss der Polizei zum Opfer gefallen, heißt es aus dem behandelnden Krankenhaus in Tunis. Wie viele Salafisten verletzt wurden, ist nicht klar. Auf Polizeiseite soll es – so das Innenministerium – 11 zum Teil schwer verletze Beamte geben. Einer von ihnen liege im Koma. 200 Menschen wurden nach Regierungsangaben festgenommen. Unter ihnen soll sich auch der Sprecher von Ansar al-Scharia, Seifeddine Rais, befinden.
In Tunesien ist Ansar al-Scharia die größte salafistische Gruppe. Sie entstand nach der Revolution im Januar 2011. Nach eigenen Angaben zählt die Organisation 40.000 Mitglieder. Immer wieder macht sie durch gewalttätige Übergriffe auf Veranstaltungen säkularer Parteien, Konzerte und Kunstausstellungen von sich reden. Ihr Anführer Saif Allah bin Hussein – genannt Abu Iyadh – befindet sich seit einem Überfall auf die US-Botschaft in Tunis im September 2012 auf der Flucht. Der ehemalige Afghanistankämpfer droht der Regierung immer wieder aus dem Untergrund. „An die Tyrannen, die glauben Islamisten zu sein“ – so richtete sich Abu Iyadh anlässlich des Kongressverbots an die regierende Ennahda.
„Ansar al-Scharia ist eine illegale Organisation, die die Autorität des Staates provoziert“, rechtfertigt Regierungschef Ali Larayedh das Verbot und den Polizeieinsatz. Mehrere tunesische Nachrichtenseiten im Netz wurden gestern nicht müde, Larayedh daran zu erinnern, dass er es war, der die Salafisten mit seiner Politik ermutigte. Vor seiner Ernennung zum Premier war der gemäßigte Islamist Innenminister. Ansar al-Scharia konnte zu dieser Zeit auf die Untätigkeit der Regierung setzen. Verhaftete wurden schnell wieder auf freien Fuß gesetzt. Der Ennahda-Vorsitzende Rachid Ghannouchi traf sich mit der Führungsriege der Salafisten und versicherte ihnen, ebenfalls für das Ziel der Islamisierung Tunesiens einzutreten.
Ein zaghafter Richtungswechsel setzte erst ein, als der bekannte Oppositionspolitiker Chokri Belaïd im Februar erschossen wurde und kurz darauf eine Terrorzelle in den Bergen an der Grenze zu Algerien den Kampf aufnahm. Anfang Mai wurde unweit von Tunis ein Polizeibeamter enthauptet. Ansar al-Scharia stehe mit den Terroristen, die zu al-Qaida im islamischen Maghreb (AQMI) gehören sollen, in Kontakt, so Larayedh.