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Archiv-Artikel

die taz vor 14 jahren: mit dem fundamentalismus in die moderne

Der Fundamentalismus ist nach einer ersten Phase des Aufbruchs in die Moderne eine Phase der Reorientierung. Sie wird aktuell, wenn die gesellschaftliche Entwicklung stagniert oder gar rückläufig ist. In einer solchen Situation entsteht leicht das Bedürfnis nach Selbstbehauptung. Dies ist aber eine zwanghaft anmutende Form der Identitätswahrung: Man wappnet sich gleichsam mit einem Panzer, verschanzt sich hinter absoluten Wahrheiten, verkündet Buchstabentreue, Regelorientierung usw. Zur Einschätzung der ethischen Implikationen des Fundamentalismus empfiehlt es sich, eine längerfristige Perspektive einzunehmen.

Ein Blick auf den protestantischen Fundamentalismus zeigt, daß im Verlauf von zwei bis drei Generationen die äußeren Regeln internalisiert werden. In diesem zivilisatorischen Prozeß wird, um auf das oben eingeführte Bild zurückzugreifen, der Panzer durch das Skelett ersetzt. Sozialwissenschaftlich ausgedrückt: Identitätsfindung – der etwas zwanghaftes und gewaltsames anhaftet – transformiert sich zur Identität. Sie führt zu dem Aufbau des methodischen und systematischen Habitus, den Max Weber als konstitutiv für den Menschen der Moderne sieht.

Die Hinwendung zu einem ethischen Rigorismus und einer asketischen Verweigerung war notwendig zur Selbstbehauptung im Elend, zum Schutz gegen familialen Zerfall, gegen Alkohol und Verbrechen. Modernitätsgewinner – meist bürgerliche Intellektuelle – haben auch im England des 19. Jahrhunderts die Nase über den Fundamentalismus gerümpft. Die politische Intoleranz, das Spießertum, die Frontstellung gegen Ästhethik und Erotik und schließlich die religiöse Praxis waren Bürgern immer ein Dorn im Auge. Dennoch: Unsere eigene Zivilisation scheint mir ohne den Beitrag des Fundamentalismus zur Herausbildung einer rationalen Lebensführung bei breiten Schichten der Bevölkerung nicht denkbar.

Werner Schiffauer, 20. 1. 1992