: Die blutigen Spiele
Steven Spielbergs „München“ kommt in die Kinos. Deutsche Perspektiven zum palästinensischen Terroranschlag auf das israelische Olmpiateam von 1972 zeigt er nicht
von JAN FEDDERSEN
Das Projekt hatte er schon lange realisieren wollen, vielleicht seit dem Ereignis selbst, 1972, als er, 25-jährig, in den USA am Fernsehschirm erlebte, was sich bei den Olympischen Spielen 1972 in einer Stadt namens München zutrug: der Überfall des palästinensischen Terrorkommandos „Schwarzer September“ auf das israelische Olympiateam. Es war der 5. September, zehn Minuten nach Mitternacht, die meisten Mitglieder der Delegation schliefen bereits. Am Ende waren elf Sportler bei dem Attentat ermordet worden. Ihre Namen: Moshe Weinberg, Jakov Springer, Eliezer Helfin, Amitzur Shapira, Mark Slavin, Kehat Shorr, Joseph Gottfreund, André Spitzer, David Berger, Zeev Friedman und Joseph Romano.
Die Terroristen verlangten zunächst die Freilassung von 232 palästinensischen Gefangenen aus israelischen Gefängnissen, ebenso die der in bundesdeutscher Haft einsitzenden Ulrike Meinhof und Andreas Baader. Diese spezifisch deutsche Komponente des Anschlags ist freilich nicht Thema des Films, der vom 26. Januar an auch in die hiesigen Kinos kommt. Spielberg erörtert seine Gründe für den Film – und zwar mit Blick auf die Welt von heute: „Und wenn wir auf den Terror heutzutage reagieren müssen, ist es notwendig, dabei sorgfältig vorzugehen. Uns nicht verrückt zu machen, uns nicht vom Handeln abhalten zu lassen, sondern versuchen sicherzustellen, dass wir auch erreichen, was wir wirklich beabsichtigen.“ Was der Begründer der Shoah-Foundation und Filmarchivar des Schicksal von Holocaust-Überlebenden wohl meint, ist eine Verknüpfung der Wahrnehmungen vom Terror damals mit denen nach dem 11. September: Der Film handelt insofern zutreffend nicht von den deutschen Umständen jener Tage, sondern von den jüdisch-arabischen Konflikten – und wie mit ihnen umzugehen sei. „München“, wie der Film betitelt ist, handelt von der Zeit nach dem Anschlag, bei dem einige der Attentäter schon in München selbst getötet wurden, und von der Jagd auf die davongekommenen Terroristen und ihre Logistiker, vom Wunsch der israelischen Premierministerin Golda Meir, diese möge man umbringen. Als Zeichen, dass es sich nicht rechnet, Juden heimtückisch anzugreifen.
Spielbergs Aussage, die Tat von München bilde eine Folie für das Verständnis aktueller Politik im Nahen Osten, ist kein Promotiongeklingel. Sie berührt tatsächlich eine quasi innerjüdische Diskussion, die sich erstens mit dem christlichen Stereotyp auseinander setzt, das jüdische Verständnis von Auseinandersetzung sei auf Rache und Vergeltung gegründet („Auge um Auge, Zahn um Zahn“), zweitens aber zur Frage stellt, welchen Anteil die israelische Politik selbst an den Fantasien islamischer Gesellschaften und ihrer Eliten hat, Israel müsse ausgelöscht werden, um das eigene Glück zu finden.
Der Oscar-prämierte Regisseur und Produzent („E. T.“, „Jurassic Park“, „Schindlers Liste“) stellt die Frage: Hätte man den palästinensischen Ansprüchen nicht milder, moderater begegnen müssen? Waren und sind wir, anders formuliert, nicht zu entschlossen in dem Anspruch, nie mehr Opfer werden zu wollen? Was ja die Gründungsidee des Staates Israel selbst war, Schlussfolgerung nicht allein aus dem Holocaust, sondern überhaupt aus jahrhundertelangem Dasein als stets um Wohlwollen der (christlichen, islamischen) Mehrheiten buhlend?
Alle Erzählstränge, die die Voraussetzungen erhellen, welche den palästinensischen Terroranschlag in der Bundesrepublik besonders schockierend machten, fehlen. Die Olympischen Spiele 1972 in München waren ein Event, das zeitgeistig zwingend in jenes Jahr eingewoben ist, das für die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik so wichtig war wie kein anderes seit der Gründungsakte namens Grundgesetz 1949. 1972, da war Willy Brandt noch Bundeskanzler, eben hatten SPD und FDP als sozialliberale Koalition das Misstrauensvotum der Union abgewehrt. Letzteres ein Generalverdacht gegen das Credo von „Mehr Demokratie wagen“, gegen die Aussöhnung mit Osteuropa, den Verzicht auf Allmachtsrhetorik gegen die DDR, gegen die gesellschaftlichen Liberalisierungen in toto.
Münchens sozialdemokratischer Bürgermeister Hans-Jochen Vogel hatte die Olympischen Spiele Mitte der Sechzigerjahre in seine Stadt geholt – und es sollten „heitere Spiele“ werden, der Kontrapunkt zu den Hitlerspielen 1936 in Berlin. In fast jeder Nuance gelang dieses Konzept. Die Architektur lebte von luftigen Formen – das Olympiastadion bot eine sensationelle Halbdachkonstruktion, sanft wellenartig, als Plexiglasarrangement. Selbstbewusster konnte der Berliner Arena nichts entgegengesetzt werden: In Hitlers Hauptstadt eine einschüchternde Architektur – und in München, Hitlers Stadt des Aufstiegs, ein luftiges Dementi. Die Eröffnungsfeier wurde mit Bedacht musikalisch vom Bandleader Kurt Edelhagen instrumentiert: Die Nationalhymnen aller Länder, die teilnahmen, arrangierte er swingend. Noch antinazihafter, Marschmusikhaftes allenfalls ironisierend, hätte man das kaum zuspitzen können. Dazu die designerische Corporate identity jener Spiele über die Piktogramme des Bayern Otl Aicher: Signale der öffentlichen Kommunikation, Bits und Bytes der Pop-Art setzend.
München 1972, das war in der Bundesrepublik ein Ereignis, das unbedingt das neue Deutschland ausprobieren wollte: free & easy. Die Olympischen Spiele, die Fernsehbilder, das, was medial transportiert wurde, war eine Art Woodstock des Hochleistungssports. Das Olympische Dorf, ein Ferienlager quasi vor und nach den Wettkämpfen, war wie üblich geschlechtergetrennt angelegt. Der Überlieferung nach soll es dennoch ein heftiges Cruising zwischen den Schlafsälen gegeben haben. Sicherheitsbestimmungen? Man hielt sich polizeilich zurück. „Wir waren auf so etwas in keiner Weise vorbereitet“, sagte Hans-Jochen Vogel später über den Terroranschlag. Man wollte es vielleicht auch nicht sein: Deutschland und eine allzu krasse Polizeipräsenz? Wie hätte das im Ausland ausgesehen?
Für israelische Sportler, von denen noch viele Angehörige und Verwandtebeim Holocaust verloren hatten, war es keine Frage: Man wollte an diesen Spielen teilnehmen. Aber in der Bundesrepublik? In München? In Sichtweite der Feldherrenhalle? Man traute sich; Golda Meir und viele andere Politiker Israels äußerten keine Bedenken. Umso traumatischer dieser Überall in der Nacht auf den 7. September: „Wir hätten misstrauischer sein sollen“, hieß es später in der israelischen Presse. München 1972, das war auch die Geburt der bundesdeutschen Hochsicherheitspolizeiapparate. So lasch, wie man dieses Fest schützte, wollte man es nie wieder anstellen.
Spielberg hat einen Film gedreht, nichts weiter. Man mag seine Grübeleien als wahrhaftig nehmen. Deutsche Fragen bleiben dennoch offen. Weshalb hat die linksradikale Post-68-Szene dieses Attentat nie verurteilt? Wer hat eigentlich den Terroristen logistisch geholfen – Männern, die außer Arabisch keine andere Sprache beherrschten? Hatte die unverhohlene Sympathie mit den Leuten vom Schwarzen September etwas mit dem von der Eltern- und Wehrmachtsgeneration überlieferten Antisemitismus zu tun? Mit Neid und Missgunst auf die Muskeljuden, die nun in Israel Staat machten? Andersherum: Konnte der Schwarze September von einem bis heute kaum flüchtigen Mitgefühl der Linken mit den vermeintlich antikolonialen Ansprüchen der Palästinenser zehren? Begünstigte diese Sympathie für die „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) eine fundamentale, auch linksradikale Verstimmung über die Postholocaustjuden, die man doch als Opfer liebte, aber nicht als Souveräne im Sinne eigener Überlebensorganisation? Versah man, kurz gesagt, im linken Sinne das Werk alter Kameraden?
Wolfgang Kraushaar hat bereits mit „Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus“ ein exzellentes Buch über den Antisemitismus der Linksradikalen Ende der Sechziger geschrieben. Eine Recherche, die den Terror gegen Juden bei den Olympischen Spielen in München eingehend beleuchtet, würde vermutlich noch mehr lohnen.
JAN FEDDERSEN, 48, ist taz.mag-Redakteur