: Checkpoint Palästina
Whiskey in Gaza, HipHop und Wodka im Westjordanland – nach der Räumung jüdischer Siedlungen keimt unter jungen Palästinensern leise Hoffnung auf Normalisierung. Das Stimmungsbild einer zerrissenen Region
von JASNA ZAJCEK
Weinend sitzt eine blonde Frau am Grenzübergang Eres, dem Betonungetüm, das den Menschen- und Warenfluss zwischen Gaza und Israel regeln soll. Ein kleines Lächeln, als ich sie auf Deutsch anspreche. Ihr zweiter Versuch, nach Gaza zu reisen, um dort ihre Schwiegermutter kennen zu lernen, ist gescheitert. Es ist Feiertag, jüdisches Neujahr und Beginn des Ramadan, höchste Wachsamkeit bei allen Grenzern der Israeli Defense Force (IDF), die ohnehin immer gefordert ist. Das Auswärtige Amt rät von der Einreise ohnehin ab: Wenn hier geschossen und entführt wird, kann keine Botschaft helfen. Auch angemeldeten Journalisten könne jederzeit spontan die Einreise in den offiziell freien Gaza-Streifen verweigert werden, wurde schon vorher von den israelischen Behörden gewarnt.
Wir sind etwas nervös: Die Kollegen und ich haben die Maximalmenge von je einer Flasche Whiskey im Gepäck, das hatten sich zwei unserer Interviewpartner, Geschäftsleute aus Gaza-Stadt, gewünscht – gegen Bargeld. Daneben habe ich zum persönlichen Schutz immer CS-Gas dabei und fotografiere prinzipiell militärische Anlagen stets bis zu dem Punkt, an dem Ärger droht.
Lässig herumlungernde Teenagersoldaten führen kurze Interviews und telefonieren irgendwohin, warten in der Hitze, in einem mit jüdischem Neujahrsschmuck dekorierten Container-Checkpoint. Wir werden durchgewinkt. Die traurige Schwiegertochter muss draußen bleiben. Durch Drehtür und Metalldetektor geht es in die riesige Abfertigungshalle – gebaut, um tausende palästinensische Tagelöhner auf ihrem Weg nach Israel und zurück zu kontrollieren. Doch jetzt dürfen sie schon lange nicht mehr raus. Befremdlich: Jetzt, da Gaza „frei“ ist – die jüdischen Siedler sind erst ein paar Wochen weg –, sind keine Grenzgänger in Sicht, nicht einmal Grenzer, auch keine Soldaten.
Eine anonyme Grenzübergangsfabrik. Im grellen Scheinwerferlicht stehend, kommandieren mich Lautsprecher aus acht Meter Höhe. „Turn around!“ Tasche aufs Fließband, in den Apparat legen, CS-Gas und Whiskey kommen durch, es scheppert aus Lautsprechern, nach Begutachtung: „Have a nice day!“ Noch 800 Meter zu Fuß, durch einen breiten, abstrakt wirkenden Korridor aus Rohbeton, eine Passkontrolle durch drei uniformierte Damen mit Kopftuch, dann bin ich in einem der am dichtesten besiedelten Trümmerhaufen der Erde. Eine Autostunde und 45 Minuten Grenzüberschreitung vom glitzernden Tel Aviv entfernt, zuckeln hier Eselskarren über lädierte Straßen, die von Wellblechhütten und tonnenweise unentsorgtem Müll flankiert werden.
In der Ferne, über dem Meer, schwebt gleißend ein Zeppelin, perfekt getarnt, nicht fotografierbar; die Abzüge meiner Fotos werden später nur blauen Himmel mit einem leichten weißen Schatten zeigen. Der Fahrer, Ahmad, erklärt ohne Groll, dass die Israelis weiterhin alles überwachen. Trotzdem freue er sich, denn seit die Siedler abgezogen sind, könne er die große Nord-Süd-Straße des Streifens endlich wieder uneingeschränkt nutzen. Zuvor war sie teilweise und oft auch im Ganzen für Palästinenser gesperrt, auch die Umgehungsstraßen. Für ihn als Fahrer ist das Leben deutlich besser geworden, auch wenn er fast keine Kunden hat und so gut wie nichts verdient. Ahmad und seine Familie können nur mit der Hilfe seiner vier in Deutschland lebenden Brüder überleben. Seit Jahrzehnten sei dies der normale Weg für Palästinenser, im Westjordanland und in Gaza zu überleben.
Wir rumpeln nach Gaza-Stadt, ins dicht gedrängte Häusermeer, viele Häuser, fast alle, sind verfallen. Keine bürgerkriegsartigen Zustände, das Chaos sollte erst einige Wochen später ausbrechen, alles wirkt friedlich, hunderte Kinder laufen aus der UNO-blauen Schule nach Hause, und die Jungs lärmen aus voller Kehle. In Uniform winken die Kleinen aufgeregt in meine Kamera, die Mädchen mit den weißen Kopftüchern laufen hier, im – verglichen mit dem Westjordanland – konservativen Gaza, brav auf der anderen Straßenseite. Obwohl laut Unicef die Kindersterblichkeit hier sechsmal höher als in Deutschland ist und Mangelernährung herrscht, erzieht jede Frau hier fünf bis sechs Kinder. Mit weniger als einem Dollar pro Kopf und Tag. Rund 80 Prozent der Kinder in Gaza sind laut Unicef-Bericht 2004 durch die ständigen Luftangriffe und Vergeltungsaktionen der IDF traumatisiert.
Gaza unterscheidet sich optisch in drei Punkten von anderen arabischen Städten und Ortschaften: Alle Häuser sind mit Graffiti beschrieben, dabei mit verschiedenen Flaggen und Fahnen geschmückt. Meist weht die grüne Flagge der Hamas, aber auch die gelbe der Fatah, die rote der PFLP und die schwarze des Islamischen Dschihad. Statt der sonst üblichen Präsidenten- oder Königsbilder hängen hier Poster und Wandgemälde der Schaheeds, der Selbstmordattentäter. Und es türmt sich noch mehr Müll als anderswo, in den Hinterhöfen, auf den Straßen. Wenn ihn die Esel nicht fressen, holt niemand ihn ab.
Die Zukunft? Nur Gott allein weiß, was die Zukunft bringen wird. Vielleicht wird es irgendwann mal ein Palästina geben. Ein Palästina mit Industrie und einer funktionierenden Wirtschaft. Wir warten auf Gottes Rettung.“ Mai Khalil ist eine wunderschöne Frau, die ihr Kopftuch locker trägt. Sie ist Mitte zwanzig und lebt im Flüchtlingslager von Khan Yunis, im Süden des Gaza-Streifens, fast direkt am leeren, nicht ganz so schmutzigen Strand, der das Lager zum Meer hin begrenzt. Doch für Beach & Fun ist hier der falsche Ort, hier wird der Koran gelehrt, nicht schwimmen. Die junge Frau hatte mich von der Straße in ihre Behausung gezogen, als mir ihr etwa achtjähriger Sohn, im Geröll spielend, erklärte, wie sehr er die Widerstandskämpfer auf den Plakaten verehre. Irgendwie passt ihre Anmut nicht hierhin, wo israelische Vergeltungsaktionen viele Häuser bis auf die Grundmauern zerstört haben und jedes Haus durch Maschinengewehrsalven durchlöchert ist.
Die junge Palästinenserin lebt mit zwanzig Personen in etwas, das vielleicht als Trümmer mit Grundmauern, aber schon lange nicht mehr als Haus durchgehen könnte. „Wir haben vier Zimmer. In jedem Zimmer gibt es etwa vier bis sechs Personen. Im Winter ist es sehr kalt hier.“ Die dünnen Matratzen, die ärmliche Kochnische – alles, was die hier hausende Familie mit Ehemann, Onkel, Tante und Kindern besitzt, ist mit dem feinen Sand des nahen Strandes überzogen. „Seit die Juden weg sind, sind wir sehr glücklich; wir hoffen auch, dass die Gefangenen freigelassen werden. Und dass unsere Kinder Bildung bekommen und die Wirtschaft funktioniert“, erklärt mir die sechsfache Mutter, doch ihr Optimismus scheint ihr selbst unbegründet.
Ein paar Kilometer weiter liegt die von den abziehenden jüdischen Siedlern selbst zerstörte Siedlung Gusch Katif. Hier gingen 220 israelische Kinder in eine schöne, saubere Schule, deren Überreste die sich siegreich fühlenden Palästinenser nach dem israelischen Abzug komplett verwüsteten und in Brand steckten. Ein paar Männer suchen im Schutt nach Brauchbarem.
Ahmad fährt voll Stolz zum Yassir Arafat International Airport, der bis auf die von der IDF zerbombte Landebahn komplett intakt wirkt. Gebaut wurde der Flughafen 1996, von der deutschen Bundesregierung mit 150 Millionen Mark bezuschusst: damit die Palästinenser, auch während der schon damals häufigen Grenzschließungen, ihre wichtigsten Exportgüter wie Gemüse und Blumen exportieren konnten. Man kann die Abfertigungshalle einfach betreten, alles ist offen, luftig gebaut, sauber, arabische und englische Tafeln leiten den Weg für Gäste, die niemals kommen. Vielleicht besser so – sie wären vermutlich sehr irritiert von den auch hier überall hängenden Märtyrerplakaten. Oder von der hier wieder sichtbaren Mauer, die Gaza abriegelt, und dem – im Vergleich DDR-Anlagen – überdimensionierten massiven israelischen Überwachungsturm.
Hoffnung besteht trotzdem; eine palästinensische Investorengruppe hält sie kostspielig aufrecht: Sie baut in Gaza-Stadt seit fünf Jahren mit Unterbrechungen an einem Mövenpick-Hotel am Strand. Einige andere Hotels sind ebenfalls in Bau, direkt neben Flüchtlingslagern, neben im Gestrüpp grasenden Ziegen und Abfall. Wer hier wohl einmal Urlaub machen soll, falls irgendjemand Geld dazu hat und Gaza jemals ohne israelische Sondererlaubnis betreten werden darf? Die Geschäftsführerin eines neuen, sehr schicken Restaurants wagt noch nicht, auf Touristen zu hoffen, immerhin kämen aber schon viele NGO-Mitarbeiter zu ihr, obwohl erst seit einem Monat geöffnet sei. Sollten das Westjordanland und Gaza irgendwann durch einen langen, tief in die Straße eingelassenen Korridor nur für Palästinenser verbunden sein – ein vages israelisches Bauvorhaben –, könnten hier Gäste aus dem Westjordanland Tage am Meer verbringen.
Die charmanten, weltgewandten Empfänger der Whiskeyflaschen treffen wir hier. Sami Abdel Shafi hat in Amerika Wirtschaft studiert und freiwillig seinen US-Pass gegen einen Gaza-Ausweis getauscht. Er berät NGOs, die Gaza unterstützen oder aufbauen wollen, auf westlichem Niveau. „Korruption und das Versickern der Gelder ist das zweitgrößte Problem hier. Das größte ist, dass nur die Hamas als nicht korrupt gilt.“
Als es zu dämmern beginnt, wird Ahmad, der Fahrer, hektisch und erklärt, dass er mich jetzt verlassen werde, da er zu seiner Familie zum Iftar, zum Fastenbrechen, müsse, dass er mich danach nicht zum Übergang nach Eres zurückfahren könne. Das Essen werde sehr lange dauern. Restaurants gebe es keine, alle Geschäfte seien geschlossen, jeder sei bei seiner Familie. Da Gaza sich anfühlt als einer der letzten Orte der Welt, an denen man in der Abenddämmerung allein gelassen werden möchte, schenke ich ihm sofort all meinen Proviant und mein Wasser und treibe Zigaretten auf. Er erbarmt sich, erklärt sich bereit, auch nach Einbruch der Dunkelheit weiterzuchauffieren. Ein Glück, zumal jetzt nicht nur die wilde Kakophonie der Gebetsrufe aus Moschee-Lautsprechern und voll aufgedrehten Autoradios beginnt, sondern auch Gewehrsalven durch die kühle Nachtluft knallen – abgefeuert aus Freude, dass das Hungern und Dursten des Tages ein Ende hat. Wenige Nächte später schossen die Palästinenser wieder selbst gebaute Kassam-Raketen aus Nordgaza gen Israel, als Antwort kam die IDF mit Bulldozern, Apache-Helikoptern und tief fliegenden F-16-Kampfflugzeugen, deren Überschall Fensterscheiben splittern ließ.
Zurück am Übergang: Schüsse und Leuchtraketen, mit kleinen Schirmchen, als wir uns der Grenzmaschine nähern. Die palästinensischen Grenzer freuen sich über Besuch, drei locker Uniformierte hocken und liegen mit einigen Freunden in T-Shirts und Jogginghosen auf alten Matratzen beim Tee, zu dem sie sofort einladen. Nachdem ich von ihnen beim Dienst habenden Israeli am anderen Ende des Tunnels angemeldet worden bin und auf Genehmigung warte, den Gang zu passieren, hocken wir, trinken Tee und scherzen.
Israel fühlt sich besser an. Eine Stunde später, nach Fahrt entlang der neuen Mauer, beim Bier am Strand von Tel Aviv, rieseln trotzdem noch Schauer durch meinen Körper. Wie dankbar bin ich für meinen EU-Pass. Am Abend wollen schwule Freunde, Einheimische, ausgehen, in einen heißen neuen Club, das Powder. Anstehen für den Security-Check: Metalldetektor und Taschenkontrolle. Nach Drogen, wie in manch einschlägiger Disko in Europa, wird hier nicht gesucht. Hysterische Stimmung, der allnächtliche Tanz auf dem Vulkan. Um drei Uhr morgens hat kaum noch ein Mann sein T-Shirt an, recht innovative elektronische Musik peitscht die dampfende, sich eitel gebende Crowd. Joints machen die Runde, die Toilettenkabinen sind überfüllt mit hektischen, verschwitzten Menschen. Draußen, im Open-Air-Gelände, auf großen, weißen Sofas, stürzen Leiber begierig übereinander. Es soll ein schwuler Club sein, stellt sich im Lauf der Nacht aber als ein Zirkus des allgemeinen hedonistischen Wahnsinns heraus. Zwei junge Männer wollen nach Plausch und Drink zu mir ins Hotel. „First I am going to watch how you fuck him, then I am going to fuck you.“ Dabei war das Gespräch gar nicht in diese Richtung gegangen.
Die beiden sehen sehr arabisch aus. Der große Schöne, Guy, 26, ist Taxifahrer, seine Eltern sind aus Marokko, der andere, Roy, 23, ist ein aus Algerien stammender Koch-Azubi. Sie sind stolze Juden und hassen die Araber. „Warum? Wegen der Araber musste ich mir drei Jahre meines Lebens von der Armee stehlen lassen.“ Ein deutscher Freund, bi, verabredet sich zum Chillen mit einer neuen Bekanntschaft, sagt dann aber doch ab: Die Freundin des Typs sollte auch mit dabei sein und eventuell noch andere Jungs. Sie mag es gerne mit „as many boys as possible“. Wir beenden den Tag lieber in der levantinischen Morgendämmerung, schwimmend.
Am nächsten Tag nimmt mich Arvid Weinlich mit nach Jerusalem. Weinlich ist der Leiter des Deutschen Vereins zum Heiligen Lande, der seit 150 Jahren in Jerusalem ansässig ist und katholische Pilger aus dem Bistum Köln betreut. Auf der Fahrt erklärt er mir, dass die arabischen Christen Palästina verlassen, wann immer sie es sich leisten können. Auch seine christlich-arabischen Mitarbeiterinnen könnten es kaum mehr ertragen, ihre Familien nur zu Passierscheinzeiten zu sehen, willkürlich nicht mehr zu ihrem Arbeitsplatz gelassen oder festgenommen zu werden, wenn sie nach Verrichtung ihres christlichen Tagewerks, eine halbe Stunde nach Ablauf ihrer offiziell genehmigten Aufenthaltszeit im falschen Teil der Heiligen Stadt erwischt würden.
An der Hebrew University in Jerusalem treffe ich Rafael Mechoulam. Der über 80-jährige Professor empfängt mich in seinem Labor. Er ist Pionier auf dem Gebiet der therapeutischen Cannabisforschung, 1964 gelang es ihm erstmals, THC (Delta-9-Tetra-Hydro-Cannabinol) aus der Cannabispflanze zu isolieren. Seitdem forscht und kämpft er für die therapeutische Anwendung von THC, das gut gegen Appetitlosigkeit, Traumata und Angststörungen wirkt. Seine Forschungen wurden international argwöhnisch beäugt – bis die US-Soldaten aus Vietnam zurückkamen und jede Menge Probleme mitbrachten. Plötzlich flossen Fördergelder aus den USA. Mechoulams Forschungen rund um das Gute in Cannabis brachten ihm viele Urkunden renommierter Institutionen ein, auch eine Ehrung als „Wissenschaftler des Jahres“ des deutschen Hanf-Magazins. Der Professor liebt seine Arbeit und seine Studenten, derzeit hilft er Trauma- und Schmerzpatienten, auch aus der Armee, mit kontrollierter Abgabe von THC. Je stärker jedoch die Rechte in Israel sei, sagt er, desto schwieriger werde seine Arbeitssituation.
Nach unserem Gespräch fährt mich der Professor durch den Teil Jerusalems, der nach seinen Worten von „Pinguinen“ beherrscht wird, das heißt: von orthodoxen Juden. Religion findet Mechoulam einfach überbewertet. Als Kind war er, ein Verwandter von Elias Canetti, aus Osteuropa geflüchtet. Ethnisch und staatsbürgerlich sei er Jude und Israeli, begreife sich aber als europäischer Naturwissenschaftler. Zusammen suchen wir einen Shop, der Wodka führt, für die Rapper aus Ramallah, zu denen ich jetzt noch will. Es gibt überraschend viele Spirituosengeschäfte neben all den Reinigungen, in denen nur schwarze Mäntel hängen und in denen nur Männer in schwarzen Mänteln schwarze Mäntel abgeben oder abholen. Der Professor schüttelt den Kopf: Zu viel Inzest und zu viele unverständliche Besonderheiten, die er selbst nicht verstehe – aber nur durch die Besonderheiten habe sich das Volk durch die Jahrtausende erhalten können. Der feine alte Herr drückt mich beim Abschied am Damaskustor herzlich und entschuldigt sich für die Umstände, in denen ich das Weltkulturerbe finden muss.
Es soll Rapper in Ramallah geben, ein Freund aus Norwegen hatte von ihnen gehört. Die Crew von „Ramallah Underground“ fand ich im Internet. Jetzt haben sie mich zu einer Jam-Session eingeladen. Der erste Kontakt vor zwei Monaten lief über das Internet, dann über das schlechte Funknetz im Westjordanland. Ich bin glücklich, die HipHop-Jungs ans Telefon bekommen zu haben, hoffentlich erwische ich sie wieder, wenn ich in ihrer Stadt bin. Man kann sich in dieser Region nicht für eine exakte Uhrzeit verabreden, Checkpointzeiten sind ein stetiger Faktor X.
Am Damaskustor, von dem aus man den arabischen Teil der Heiligen Stadt betreten kann, knallen wieder Schüsse in der Abenddämmerung, wahrscheinlich nur aus Freude, trotzdem gehe ich einen kleinen Umweg. Ab der Busstation für Palästinenser fährt man für 45 Cent zum Kontrollpunkt Kalandia, wo der Ostjerusalemer Bus wieder umkehren muss. Kalandia wirkt in der Finsternis wie eine surreale Inszenierung, irgendwo zwischen Mad Max und der Bronx der 70er. Flutlichtlampen, monströse Kontrolltürme und die von hier an allgegenwärtige Mauer. Ich darf trotz EU-Pass und dem Argument, allein reisende Frau zu sein, kein Pfefferspray zur Selbstverteidigung bei mir tragen, die anderen – 18-jährige Soldaten – aber dürfen scharfe Knarren mit sich führen, wo immer sie auch hingehen.
Für die Pendler ist Kalandia, dieser auf mich absurd wirkende Ausnahmeort, so normal wie für mich die tägliche Fahrradfahrt durchs Brandenburger Tor. Datteln werden neben einer brennenden Tonne verkauft, schnell eine Hand voll für diejenigen, die es nicht pünktlich zum Iftar zu ihren Lieben in den „Gebieten“, den Mauerkantonen, geschafft haben.
Behinderte betteln, auf dem Boden kauernd. Taxis und Busse kurven laut hupend um den kleinen Vorplatz des Checkpoints, ein Hydrant spritzt Wasser, trotz der nächtlichen Kälte erfreuen sich ein paar kleine arabische Jungs am Wasserstrahl und plantschen vor den israelischen Kontrolltürmen im Flutlicht herum. Wer ins Westjordanland will, stellt sich an, in einem verschlungenen Gatter, überdacht immerhin, muss durch insgesamt zehn Schranken, gibt sein Gepäck ab und wartet, bis die blutjungen SoldatInnen durch den Metalldetektor winken. Die Angst vor Anschlägen scheint alles zu legitimieren. Seit es die Mauer und hunderte, auch „fliegende“ spontane Checkpoints im Westjordanland gibt, kann sich Israel statistisch tatsächlich sicherer fühlen. Ich werde als Europäerin erkannt, man winkt mich vor, die kleine Soldatin hat ein fast entschuldigendes Lächeln auf dem Gesicht, als sie meine Tasche durchwühlt und mir mein CS-Gas wegnimmt. Durch den zweiten Teil des Gatters geht es in einen rund hundert Meter langen Betonschlauch, der auf einem Parkplatz direkt neben der hier acht Meter hohen Mauer endet.
„RamallahRamallahRamallah“, rufen die Sammeltaxifahrer in die Nacht, für 45 Cent geht es weiter in die schickste Stadt Palästinas – auch für sie gilt eine Reisewarnung des AA. Wo die israelischen Flutlichter nicht mehr hinstrahlen, herrscht finsterste Nacht. Nur am Horizont funkeln die Lichter der immer schneller wachsenden jüdischen Siedlungen, Retortenstädte mit jungen israelischen Staatsbürgern, russische Enklaven auf international als palästinensisch markiertem Gebiet.
Nach wenigen Minuten: Einfahrt in das lebendige Städtchen in den Bergen, einst die Sommerfrische für reiche Jordanier, die das angenehme Klima und die schöne Aussicht über die hügelige Landschaft und die Olivenhaine genossen. Die Internetcafés sind voll mit jungen Menschen; Mädchen mit und ohne Kopftuch treffen Jungs in Chatrooms. Im Kaffeehaus nebenan, live und direkt, ist das nicht möglich, da sitzen nur die Männer. Familien flanieren auf den Straßen, jeder zweite Laden entlang der Hauptstraßen ist eine Bäckerei oder ein Süßwarenladen.
Nach einigen Versuchen erreiche ich Jad alias MC Boikutt über das Mobilnetz, er holt mich mit einem Kumpel im großen Cruiser seines Vaters ab, aus den Boxen dröhnen die Beats des Wu-Tang-Clans, für einen der zahlreichen Verwandten der US-Rapper habe er schon Beats gemacht und übers Internet verschickt, erklärt er mit derselben Lässigkeit, mit der auch alle anderen Rapper der Welt über ihre Arbeit reden.
Zum Kennenlernen gehen wir ins In-Restaurant Stones, eines der wenigen im Ramadan geöffneten Restaurants; hier sitzen westlich gestylte Mädchen mit ihren Freunden gemeinsam an Tischen und rauchen Wasserpfeife. Außerhalb des Ramadan wird hier auch Alkohol ausgeschenkt. Jad ist gerade 20 Jahre alt, ein Zarter, Schmaler, hat sehr schöne, große schwarze Augen und zeigt bei seinem seltenen Lächeln strahlend weiße Zähne. Er spricht perfektes amerikanisches Englisch, lebte die letzten zwei Jahre in Washington, D. C. und studierte Musik. Wie auch sein Kumpel besitzt er den amerikanischen Pass, der aber von den Israelis nicht anerkannt wird. „Als ich einmal versuchte, ohne israelischen Passierschein, nur mit meinem US-Pass, über Kalandia nach Jerusalem zu reisen, schmissen die Grenzer den Pass auf den Boden und traten drauf. Ob ich sie verarschen wollte, fragten sie mich, ich müsse doch genau wissen, dass der Pass für einen wie mich hier nichts bedeuten würde.“
Ich habe noch keinen Schlafplatz für die Nacht und zweifle, ob ich eine Einladung von dem kühlen Künstler bekommen werde. Kurz verabschiede ich mich in die Bar neben dem Stones. Von einem Christen geführt, ist es das einzige Lokal, das unter der Hand auch im Ramadan Alkohol ausschenkt, hauptsächlich an die vielen hier ansässigen NGO-Mitarbeiter. Die Internationalen kennen sich, und natürlich gibt es alle möglichen verschwurbelten internationalen Liebesbeziehungen und wilde Partys. Alle sind jung, energiegeladen, abenteuerlustig; wer das nicht ist, kommt nicht zum Arbeiten hierher.
Simon Boas, ein junger britischer Gentleman vom Palestine Economic Policy Research Institute, den ich bei meinem letzten Besuch hier traf, gab mir eine Einführung in die lokalen Westler-Gepflogenheiten. Wie beim Kriegsreportermythos scheint Alkohol auch für die NGO-Mitarbeiter, die freiwillig unter Besatzung leben, eine große Rolle zu spielen. Erwartungsgemäß sitzt Simon dort mit FreundInnen vom Roten Kreuz und der UN beim Bier. Hoch gewachsen und mit herrlichem britischem Humor ausgestattet, hätte er auch einen jungen James Bond spielen können; die Augenklappe, die er seit vier Monaten wegen einer Schlägerei mit einem Freund in England tragen muss, macht ihn noch spannender. Ich hole mir von ihm meine Schlafplatzeinladung für die Nacht ab und versuche dann im Restaurant nebenan weiter, die Kühle der Rapper, die sich bald als bloße Schüchternheit erweisen wird, zu erwärmen.
Als ich den Wodka erwähne und frage, wo man ihn denn trinken könne, beginnen die Jungs zu strahlen, das Eis zwischen uns schmilzt. Sie freuen sich, was sie mit ihrer kleinen Website (www.ramallahunderground.com) und den darauf zu findenden Tracks erreicht haben, und sagen es mir sofort und ohne Scheu: dass sie niemals im Leben damit gerechnet hätten, dass jemand aus Deutschland sich für sie interessieren würde und dann auch noch tatsächlich die Ankündigung, sie in diesem unwirtlich gewordenen Teil der Welt zu besuchen, wahr machen würde. Und dass es dann auch noch ein blondes Girl aus Berlin sein würde, das hier allein und mit einem Liter unbezahlbarer Markenspirituose in der Tasche anreisen würde, hätten sie nie für möglich gehalten. Ob ich denn schon wisse, wo ich schlafen werde – natürlich sei ich bei ihnen, also im Hause ihrer Eltern, herzlich willkommen.
Doch erst noch steht die Jam-Session an. Im Cruiser geht es geführt von einem Freund der beiden, durch die halbe Stadt zu einem Friseursalon. Nebenan ist ein kleines Tattoostudio versteckt, in dem ein weiterer Freund im blütenrein weißen Doktorkittel gerade eine 17-Jährige mit offenem Haar, in Trägershirt, Armeehose und Nietengürtel tätowiert. Sie hat sich einen schwarz-violetten Schmetterling als Verzierung ihres Steißbeins ausgesucht und freut sich über den Wodka Orange, der sie die Stiche der Nadel etwas milder empfinden lässt. Auf meine Frage, ob sie denn damit noch Chancen habe, im konservativen Palästina geheiratet zu werden, lachen die Jungs. „Niemand wird sie heiraten!“
Die beiden wollen wissen, warum ich einen Rock über meiner weiten Hose trage und auch sonst so schlabberige Kleidung, als ob ich die islamische Kleiderordnung beachten müsse. Eine Diskussion entbrennt: Jad, der selbst die internationale Uniform des HipHop (weites, offenes Karohemd über schneeweißem T-Shirt, zu große Jeans und teure Turnschuhe) trägt, ist der Überzeugung, dass die Jugend Ramallah und die arabische Welt selbst reformieren müsse. Je mehr Girls offenes Haar, kurze Röcke und Tätowierungen trügen, desto schneller würden alle mitmachen oder zumindest die Ankunft der Moderne begreifen. Sein Kumpel Jassir widerspricht energisch: Ob Jad wisse, was er da redet? Nein, nein, die Deutsche mache es mit ihrer Kleidung richtig. Schließlich kenne er genug Mädchen im Westjordanland, die vergewaltigt worden seien, nur „weil sie einmal dem falschen Pizzalieferanten in Shorts die Tür geöffnet“ hätten. Prinzipiell unterstütze ich Jads Meinung, aber als Frau allein – jetzt auch noch ohne mein Gas – trage ich gerne Schlabber und habe ein Kopftuch griffbereit. Hier zum Glück brauche ich das nicht.
An den Wänden hängen, genau wie bei jungen israelischen Post-Pop-Hippies, neonbunte, fluoreszierende Poster mit Aliens und Ufos und eines mit zwei kopulierenden Skeletten, darunter der Satz „True love lasts forever“. Jad fängt ein bisschen an zu rappen, seine Texte sind energisch, propagieren aber Frieden – denn Gewalt, sagt er, gebe es im Konflikt schon mehr als genug, auf beiden Seiten. Mehrere Freunde von ihnen seien erschossen worden, auch schon als Kinder, beim Steineschmeißen gegen Panzer, mit den angeblich ungefährlichen Hartgummigeschossen. Einmal kam die israelische Armee in die Wohnung seiner Eltern, nachts. Weil er eine US-Militärjacke geschenkt bekommen hatte und sie trug, wurde vermutet, dass er mit einer militanten Organisation zu tun habe. Razzia. Er wollte nicht sagen, dass sein Onkel ihm die Jacke geschenkt hatte, um ihn nicht in Verdacht zu bringen, also blieb die Armee im Haus seiner Eltern, auf Informationen wartend.
Nachdem er damals ein paar Stunden lang den Uzi-Lauf an seiner Schläfe spüren durfte, hält er nichts mehr vom Military Style und noch viel weniger von Gewalt. Ein wenig Verständnis für die andere Seite zu erreichen, künstlerischen Austausch zu initiieren und Frieden durch Poesie zu schaffen wären seine Ziele, wenn es denn Sinn hätte, sie zu formulieren. Gegen Juden habe er nichts („Ich könnte selbst einer sein“), nur gegen die Zionisten. Seine Ernsthaftigkeit ist keine antrainierte Abgebrühtheit, schon gar keine Attitüde. Er hat, wie so viele hier, bereits zu viel gesehen für seine 20 Jahre.
Mittlerweile sind noch der Friseur mit dem Spinnentattoo am Hals, seine Freundin und der Azubi Victor – Vater Palästinenser, Mutter aus der Ukraine – hinzugekommen. Alle sprechen gutes Englisch und sind sehr neugierig, hier war noch nie Besuch aus Deutschland. Victor mit der Modepunkfrisur fragt mich nach Gras, er würde so gerne kiffen, erklärt mir aber die Problematik: dass Cannabis, wenn man es denn in Ramallah finde, schrecklich teuer sei, dass, wenn man erwischt wird, ins Gefängnis kommt und am allerschlimmsten die gesellschaftliche Ächtung sei, die die Eltern dann ertragen müssten und an die Kinder weitergäben.
Das frisch tätowierte Girl hätte schon vor einer Stunde zu Hause sein sollen und rennt los, den unvollendeten Steißschmetterling reibend. Im besten ukrainischen Tempo knallt sich Victor die halbe Flasche Wodka rein und muss sich sofort draußen, vor dem Schäferhundezwinger, übergeben. Der Tattoomeister, der als Sicherheitsangestellter privilegiert am Ben-Gurion-Flughafen arbeitet, züchtet die Tiere hier. Sie sind sein ganzer Stolz.
Man wechselt in den spärlich-liebevoll dekorierten Friseursalon. Der smarte Jad hat sich mittlerweile genug Mut angetrunken und beginnt, vor meiner DV-Kamera zu toasten: „This is a Zionist Story – people came with ships to the Holy Land …“ Die Beats kommen aus dem Laptop, und per Internettelefonie ist sein Partner Abboud aka „Stormtrap“, derzeit im Wiener Exil studierend, dazugeschaltet. Weil es Kommunikationsprobleme gab, war mein erster Kontakt nach Westjordanland über ihn gelaufen, und als ich ihn jetzt über das Internettelefon begrüße, kann er es nicht fassen, dass er mit mir wirklich die erste internationale Pressevertreterin zu seinen Kumpels geschleust hat.
Die Jam-Session wird ein großer Spaß, alle klatschen mit und hüpfen durch den Salon. Die Lyrics wechseln von Englisch zu Arabisch, faszinierende Lautakrobatik. Um Mitternacht müssen wir neuen Wodka besorgen, cruisen mit MC Boikutt zu einem versteckten Laden am anderen Ende der Stadt, der beißenden russischen Fusel verkauft. Wieder zurück im Friseursalon, fangen die Jungs an zu tanzen, ein Track vereint orientalischen Rhythmus mit freshen Beats und geht allen direkt ins Blut. Victor tanzt Kasatschok und hat sich wieder so weit gefangen, dass er den neuen Wodka auch genießen kann. Es ist drei Uhr morgens, und alle Partyteilnehmer stellen fest, dass sie morgen zur Uni oder zur Arbeit müssen und ich dringend noch eine frisch gebrannte CD von Ramallah Underground benötige. Die Übernachtungseinladung von Jad nehme ich gerne an, er wohnt mit seinen Eltern in einer schicken Apartmentanlage mit Tiefgarage und Fahrstuhl.
Er hat ein ganz normales Jungmusikerzimmer mit Turntables und Computer, alles ist voll mit Platten und CDs. Wir brennen noch schnell eine mit seinen Beats, er krickelt eine Widmung drauf. Am nächsten Morgen habe ich das – ganz lange nicht mehr gehabte – seltsame Erlebnis, einer fremden Mutter „Guten Morgen“ zu wünschen. Vor allem, da die Mutter, mit modernem Kurzhaarschnitt, perfekt geföhnt, schon um 7 Uhr morgens am Macintosh-Laptop arbeitet.
JASNA ZAJCEK, 32, lebt als freie Journalistin in Berlin. Sie war mit Unterstützung des journalists.network in Palästina und Israel